Editorial: Ein zweites Massnahmenpaket zur Regulierungsverstärkung
Bern/ , 27. Oktober 2022Nach der Ankündigung der Prämien 2023 werden viele Versicherte wie jedes Jahr einen Prämienrechner benutzen. Die Frage, die sie sich stellen: Können sie durch einen Wechsel der Franchise, des Versicherungsmodells oder des Versicherers Geld sparen? Und wenn ja, wie gross ist das Sparpotenzial? Der Prämienrechner liefert ihnen eine Antwort auf den Rappen genau.
Wer sich die gleiche Klarheit vom zweiten Massnahmenpaket „zur Kostendämpfung“ erhofft hatte, wurde enttäuscht. In den elf Seiten Gesetzesänderungen und der 79-seitigen Botschaft, die dem Parlament im September übermittelt wurde, sucht man vergeblich nach Angaben zu den Einsparungen, die die sieben vorgeschlagenen Massnahmen zur Kostendämpfung mit sich bringen sollen. Nicht einmal eine vage Grössenordnung.
Diese Feststellung lässt aufhorchen. Sollte man nun die Massnahmen analysieren und versuchen, die Absichten herauszufinden? Man würde denselben Fehler begehen wie gewisse Ingenieure, die für jedes Problem eine Lösung suchen. Und darob vergessen, sich zu fragen, ob das Problem überhaupt eines ist und ob von Relevanz. Dieses Verhalten ist leider auch in der Gesundheitspolitik mittlerweile stark verbreitet.
Betrachten wir also zunächst einmal das zweite Massnahmenpaket in seiner Gesamtheit. Es ist ein grosses Paradoxon, dass der Bundesrat sagt, er wolle die Kosten unter Kontrolle bringen, während er nicht in der Lage zu sein scheint, die erwarteten Einsparungen zu beziffern. Auf der anderen Seite wissen wir genau, wie schnell die Kosten steigen: +2,5% pro Jahr in den letzten zehn Jahren. Bei Gesamtkosten in der OKP von mittlerweile 36 Milliarden Franken bedeutet dies ein Plus von durchschnittlich 900 Millionen Franken pro Jahr. Ohne Preisschild haben wir keine Ahnung, wie das Sparpotenzial der Massnahmen im Verhältnis zum Gesamtvolumen und zum Wachstum ausschaut. Unsere Einschätzung würde völlig unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob damit Einsparungen von 10 Millionen (dann wäre dieses zweite Massnahmenpaket völlig unbedeutend), 100 Millionen (dann würde es einen leichten Beitrag zur Kostendämpfung leisten) oder 1 Milliarde Franken (dann wäre es das Allheilmittel) erzielt werden könnten.
Wie ist dieses Fehlen von Angaben zu den erwarteten Einsparungen zu verstehen? Handelt es sich um wissenschaftliche Zurückhaltung angesichts der Schwierigkeiten im Kontext mit Prognosen? Wenn man die sieben vorgeschlagenen Massnahmen im Detail betrachtet, kommt man eher zu folgendem Schluss: Dieses Massnahmenpaket führt nicht wirklich zu Einsparungen. Es bedient sich nur des Begriffs der Kostendämpfung. Im Übrigen vermisse ich auch eine Erklärung der Mechanismen, wie die Einsparung erzielt werden soll.
In der Realität wird es anstelle einer Kostensenkung zu einer weiteren Inflation der staatlichen Regulierung kommen, die zum Mikromanagement beiträgt. Das beste Beispiel hierfür ist die als Flaggschiff angepriesene Massnahme zur integrierten Versorgung. Während sich die Netzwerke zur koordinierten Versorgung seit Jahren organisch entwickeln und immer mehr Versicherte sie nutzen, indem sie ein alternatives Versicherungsmodell wählen, sieht der Entwurf vor, diesen Bereich stark zu regulieren. Es würden neue Stellen in der Verwaltung geschaffen, da die Kantone neu dafür zuständig wären, diese Netzwerke zuzulassen – wie sie es heute bei den Ärzten tun – und ihnen Leistungsaufträge zu erteilen. Der Bundesrat könnte zudem eine Reihe zusätzlicher Kriterien festlegen.
Zusammenfassend handelt es sich um einen Etikettenschwindel, denn was als Massnahmenpaket „zur Kostendämpfung“ vorgestellt wurde, ist in Wirklichkeit vor allem ein Massnahmenpaket für noch mehr Regulierung Und das in einem System, dessen grosses Problem schon heute die ausufernde Regulierung ist, die es so komplex macht, dass kaum noch jemand ernsthaft behaupten kann, den Überblick zu haben.
Dabei liegen konkrete Massnahmen auf dem Tisch, mit denen die Kosten eingedämmt werden könnten. Der neue ambulante Arzttarif TARDOC hätte 500 Millionen Franken eingespart, wenn er 2021 in Kraft getreten wäre, und zwar dank eines Kostenneutralitätskonzepts, das ein maximales Kostenwachstum von +3% festlegt (gegenüber den effektiven +9% mit TARMED allein im Jahr 2021). Die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS) würde Einsparungen zwischen 1 und 3 Milliarden Franken bringen. Beide Projekte wurden leider mehrfach vertagt: Der TARDOC vom Bundesrat und EFAS vom Ständerat. Hoffen wir dennoch, dass sie bald zur Umsetzung kommen. Denn eines ist sicher: Die Rettung für den Prämienzahler wird nicht durch das zweite Massnahmenpaket erfolgen.