Einheitliche Finanzierung: «Das ist die Innovation, der wir den Weg ebnen wollen»

Bern/ , 30. November 2022
Gaël Saillen, Leiter Public Affairs Helsana.

«Ambulant vor stationär» mache sowohl qualitativ als auch in Bezug auf die Kosten Sinn, sagt Gaël Saillen von der Helsana. Um das Potenzial dieser Verschiebung auszunutzen, müsse die Finanzierung jedoch der neuen Realität angepasst werden.

Unter curafutura vereinen sich die innovativen Krankenversicherer. Was heisst das für Sie?

Es gibt einen Aspekt, der die Diskussion um das Gesundheitswesen dominiert: Die Kosten. Mindestens ebenso wichtig ist jedoch der qualitative Aspekt. In der Gesundheitswelt geht der Versorgungsansatz immer mehr in Richtung einer besseren Integration der verschiedenen Leistungserbringer, einer besseren Koordination der verschiedenen Gesundheitsakteure. An dieser Schnittstelle brauchen wir dringend einen Innovationsschub: Wir haben auf der medizinischen Seite eine stetige Entwicklung und gleichzeitig ein Finanzierungssystem, das stagniert.

«Ambulant vor stationär» ist ein Merksatz, der immer wieder genannt wird…

… und bei dem das System der Finanzierung dringend den neuen Realitäten angepasst werden muss. Das ist die Innovation, der wir den Weg ebnen wollen.

Das heisst?

Heute werden die stationären Kosten zu 55 Prozent durch die Kantone und zu 45 Prozent durch die Krankenversicherungen getragen. Die ambulanten Kosten hingegen werden vollständig durch die Krankenversicherer gedeckt. Hier entsteht ein falscher Anreiz. Denn plötzlich ist es attraktiver, einen Eingriff stationär vorzunehmen, obschon es ambulant günstiger wäre.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Einen Leistenbruch zu operieren, kostet stationär 4760 Franken, ambulant sind es 3030 Franken. Für den Versicherten selber ist es hingegen teurer, wenn er sich ambulant operieren lässt. Dieses Beispiel zeigt ziemlich anschaulich, dass ein Fehler im System vorliegt.

Was ist die Lösung?

Die Leistungen einheitlich zu finanzieren. Das heisst: Die Kantone würden sich zu gleichen Anteilen an der Mitfinanzierung der ambulanten und stationären Leistungen beteiligen. Dann könnten die ambulanten Behandlungen wirklich ihren Kosten dämpfenden Effekt entfalten. Diese Erkenntnis ist nicht neu: Der entsprechende Vorstoss im Parlament wurde vor der Geburt meines ältesten Sohns lanciert. Und der ist inzwischen 12.

Das Gesundheitssystem ist stets in Bewegung: Es gilt immer zwischen den verschiedenen Interessen abzuwägen.

Und wie lange wird es noch dauern, bis er umgesetzt wird?

Meine Hoffnung aus Sicht aller Versicherten ist: Bevor mein Sohn volljährig wird (lacht). Viele medizinische Behandlungen verschieben sich in Richtung ambulant. Bloss erfolgt diese Verschiebung auf dem Rücken der Versicherten. Wenn im ambulanten Bereich die Kantone  mitfinanzieren, dann entsteht ein echter Mehrwert. Auf Seiten der Kosten und auf Seiten der Qualität.

Wir reden jedes Jahr von steigenden Gesundheitskosten.

Das stimmt. Und da hätten wir eine Massnahme, die sich sofort auf die Kosten auswirken würde.

Woran harzt es?

Wir sprechen über eine wichtige Änderung des Finanzierungssystems, die eine gewisse Komplexität mit sich bringt. Solche Veränderungen brauchen viel Zeit. Nur schon, weil zahlreiche Akteure davon betroffen sind, die alle ihre Argumente und Interessen einbringen. Und dann geht es um Steuergelder, die sorgfältig und überlegt eingesetzt werden sollen. Diese Interessen auf einen Nenner zu bringen, Brücken zwischen den verschiedenen Akteuren zu bauen, ist viel Arbeit. Spannende Arbeit, die Ausdauer erfordern.

Eher Langstrecken- als Sprintrennen: Die Arbeit an den Veränderungen im Gesundheitswesen brauchen Ausdauer und Zeit.

Frustrierende Arbeit auch? Wie motivieren Sie sich?

Wenn die neuen Prämien kommuniziert werden, dann ist mir das Motivation genug… Mir gefällt es, an solchen Projekten zu arbeiten, Vertrauen zwischen den verschiedenen Akteuren herzustellen. Wenn zum Beispiel die Kantone heute auf einer doppelten Kostenkontrolle bestehen – ein Punkt, der der einheitlichen Finanzierung noch im Weg steht – , dann ist es uns Versicherern nicht gelungen aufzuzeigen, dass wir sehr sorgfältig mit den Prämiengeldern umgehen.

À propos steigende Prämien: Manchmal erscheint es, als würde man den stetigen Kosten ohnmächtig gegenüberstehen. Müsste man nicht radikaler das System verändern?

Ich würde beides verneinen. Es gibt grosse Anstrengungen, um die Kosten zu dämpfen und viele von ihnen zeigen auch Wirkung. Man darf bei der ganzen Kostendiskussion nicht vergessen, wofür wir so viel Geld ausgeben: Für eine ausgezeichnete Gesundheitsversorgung. Die Sache ist zu komplex, um einfach zu sagen, es braucht einen radikalen Systemwechsel.

Wo soll man also ansetzen?

Wir müssen die integrierte Versorgung vorantreiben. Weil diese die Gesundheitskosten generell senkt. Und hier haben wir als Versicherer wertvolles Fachwissen, das wir einbringen können und wollen.