Alternative Versicherungsmodelle (AVM)
Bern/ , 11. Juni 2024Darum geht es
Die alternativen Versicherungsmodelle (AVM) wurden in der heutigen Form mit dem KVG per 1. Januar 1996 eingeführt und sind in Art. 41 Abs. 4 KVG (Einschränkung der Leistungserbringer) und Art. 62 Abs. 1 und 3 KVG (Berechnung Prämienrabatt) sowie in Art. 101 Abs. 2 der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) geregelt. Der Anteil an AVM stieg kontinuierlich an: Ab 2011 wählte eine Mehrheit der Einwohner der Schweiz ein solches Versicherungsmodell. Im Jahr 2023 waren drei Viertel der Versicherten in einem AVM versichert[1]. Diese Entwicklung hat eine die Behandlungsqualität steigernde und gleichzeitig kostendämpfende Wirkung. Die AVM sind die Basis für integrierte oder koordinierte Versorgung[2]. Deshalb müssen sie konsequent weiterentwickelt werden, indem zum Beispiel vermehrt der stationäre Sektor eingebunden oder konkrete Qualitätskriterien vereinbart werden. AVM bleiben zentrale Gefässe für Innovationen und Weiterentwicklung im Markt.
Das sind die Fakten
Die Krankenversicherer bieten verschiedene Arten von AVM an, z.B. solche, die den Versicherten einen Prämienrabatt bieten und den Leistungserbringern eine Budgetmitverantwortung übertragen. Durch die Verpflichtung der Versicherten, eine definierte Erstanlaufstelle zu konsultieren (Gatekeeping), wird mit den AVM erreicht, dass Spezialisten nur bei Bedarf aufgesucht, Doppeluntersuchungen reduziert, Notfallstationen entlastet und Synergien genutzt werden. Dadurch können die Behandlungsqualität gesteigert und Kosten gespart werden. Der je nach Modell unterschiedlich grosse Prämienrabatt ist ein Abbild der erzielten Einsparungen und wird vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) jedes Jahr neu bewilligt (vgl. unten).
(1) Typen von AVM – von der Erstberatung zu integrierter Versorgung
In allen AVM übernimmt ein Leistungserbringer die Funktion einer Erstberatungsstelle, z. B. durch ein telemedizinisches Angebot, eine Apotheke, einen definierten Hausarzt resp. Gruppenpraxis oder eine digitale Lösung. Zusätzlich kann der Versicherer mit dem Leistungserbringer eine Budgetmitverantwortung vereinbaren, die zusätzliche und messbare koordinierende Tätigkeiten fördert. Dadurch können zunehmend voll integrierte Versicherungsmodelle über den gesamten Behandlungspfad angeboten werden, von ambulant und stationär bis zur Rehabilitation.
AVM können in Modelle mit und ohne Vertrag zwischen Versicherer und Leistungserbringer unterteilt werden. Bei Vertragsmodellen können neben der erwähnten Budgetmitverantwortung u. a. generikafördernde Massnahmen oder konkrete Qualitätsindikatoren mit Messungen vereinbart werden. Diese Qualitäts- und Effizienzgewinne kommen den Versicherten in Form von garantierter Qualität und von Prämienrabatten zugute. Mit dem Vertrag wird das Risiko in Form einer Kopfpauschale pro Versicherten (engl. «Capitation») geteilt. Dabei wird für die Versorgung eines konkreten Versichertenkollektivs ein Globalbudget vereinbart, um dadurch den Leistungserbringern einen Anreiz für optimale Behandlungskosten und Qualität zu bieten.
(2) Bewilligung von AVM sowie Berechnung des Prämienrabatts
Für die Bewilligung des Prämienrabatts durch das BAG muss die Versicherung nachweisen, wie viele Kosteneinsparungen das Versichertenkollektiv in einem AVM generiert. Dafür werden die risikobereinigten Kosten berechnet. Die nach Modell unterschiedlichen Rabatte ergeben sich aus der Kostendifferenz zwischen dem risikobereinigten AVM-Kollektiv und dem Kollektiv des Standardmodells. Wenn noch keine Erfahrungswerte vorhanden sind, dürfen die Prämien um höchstens 20% ab der Standardprämie reduziert werden (Art. 101 Abs. 3 KVV)[3]. Das Vorgehen wird im Kreisschreiben 5.3 vom 1. Juni 2019 durch das BAG präzisiert.
Folgende Tabelle zeigt einen Vergleich der Prämien nach Versicherungsmodell auf Basis der Durchschnittsprämie:
Versicherungsmodelle[4] | Durchschnittsjahresprämie Schweiz 2023 (ungewichtet) |
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Franchise 300 CHF (alle Personen) | Franchise 2’500 CHF (Erwachsene) |
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Alle Versicherungsmodelle | 3’871 | 3’344 |
Standardmodell gemäss KVG | 4’713 | 3’926 |
Listenmodelle resp. Nicht-Vertragsmodelle | 3’579 (-24.1%) | 3’281 (-16.4%) |
Vertragsmodelle | 3’603 (-23.6%) | 3’265 (-16.8%) |
Versicherungsmodelle mit Telemedizin | 3’633 (-22.9%) | 3’305 (-15.8%) |
Der Prämienunterschied zwischen dem Standardmodell und den AVM variiert zwischen rund 1’100 Franken (Franchise 300, alle Versicherten) und 600 Franken (Franchise 2’500, nur erwachsene Versicherte). Für das beste Verständnis der Tabelle ist darauf hinzuweisen, dass mit Abstand am häufigsten die Kombinationen «Standardmodell + Franchise 300» sowie «AVM + Franchise 2’500» gewählt werden und der Altersdurchschnitt im Standardmodell in der Regel höher ist. Ältere, (chronisch) kranke Personen bevorzugen anscheinend das Standardmodell teilweise im Unwissen, dass in AVM eine höhere Behandlungsqualität möglich ist.
Die realen und prozentualen Werte der Prämienrabatte für die AVM sind dabei unterschiedlich und diese Anzahl vergrössert sich noch, wenn die Prämienregionen und die Wahlfranchise miteinbezogen werden. Der kombinierte Rabatt darf dabei 50% der Standardprämie nicht überschreiten (Art. 90c KVV). Die AVM-Rabatte können entsprechend in Prämienregionen mit einem höheren Prämienniveau grösser sein als in solchen mit einem tiefen Niveau.
(3) Vorteile gegenüber dem Standardmodell
Die AVM tragen zur Steigerung der Behandlungsqualität und zur Senkung der Gesundheitskosten bei. Dabei spielen eine verbesserte Koordination zwischen den involvierten Akteuren und die damit einhergehenden Synergien eine wichtige Rolle.[5] So kann gezielter auf die Patientinnen und Patienten eingegangen werden. Mit zentral organisierten Behandlungsprogrammen, die auf spezifische chronische Krankheiten wie u. a. Diabetes oder Herzkrankheiten zugeschnitten sind (Disease-Management Programme), können zum Beispiel die Therapieadhärenz verbessert und teure Spitaleintritte verhindert werden.[6] In AVM bieten sich für Leistungserbringer und Versicherer Potentiale, neue Versorgungsformen zu entwickeln und innovative Lösungen zu finden und damit den steigenden Herausforderungen durch zunehmende Chronifizierung auf der einen und Fachkräftemangel auf der anderen Seite Rechnung zu tragen.
Die Vielfalt der AVM adressiert die Präferenzen verschiedener Zielgruppen: Gesunde Personen reagieren preissensitiver und lassen sich mit Rabattangeboten anziehen. Kranke Personen wollen primär optimal versorgt werden. Für chronisch kranke Personen müssen die Mehrwerte der koordinierten Versorgung weiter ausgebaut, aber vor allem besser sichtbar gemacht werden. So können die Versicherten in das für sie passende Versicherungsmodell auswählen.
[1] Quelle: BAG, Statistik der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, T 7.08. Verteilung der Versicherungsformen in % des Totals der Versicherten nach Kanton: Versicherte ab 19 Jahren.
Die BAG-Statistik der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zählt dabei bei den Erwachsenen von den 76.3% in AVM versicherten Personen 37.3% zum Hausarztmodell, 9.3% zu HMO-Modellen und 29.7% zu weiteren Modellen. Der aus den USA bekannte Begriff der Health Maintenance Organisation (HMO) ist im Schweizer Gesundheitssystem nur bedingt anwendbar. Es handelt sich dabei um den Prototyp einer Managed Care Organisation (MCO). Es gelten die Ausführungen zu integrierter resp. koordinierter Versorgung
[2] Die beiden Begriffe werden im Folgenden synonym verwendet. Es gibt keine breit akzeptierte trennscharfe Definition der beiden Begriffe.
[3] Für weitere Ausführungen zur Berechnung: Burri, Jürg (2013). Kosteneinsparungen und Risikoselektion bei Modellen der Krankenversicherung. Soziale Sicherheit CHSS 3/2013.
[4] Quelle: SASIS AG (2023), Datenpool, Monatsdaten Dezember 2023 / Auswertung curafutura. Die Kategorien wurden im Vergleich zur Quelle umbenannt: Listenmodelle resp. Nicht-Vertragsmodelle = Hausarztmodelle ohne Versichertenpauschale; Vertragsmodelle = Capitation-Modelle (HMO, Hausarzt mit Versichertenpauschale)
[5] Quelle: Polynomics & Helsana (2015). Koordinationsbedarf leistungsintensiver Patienten. Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit – Schlussbericht
[6] Quelle: Huber, C. A., O. Reich, et al. (2016). «Effects of Integrated Care on Disease-Related Hospitalisation and Healthcare Costs in Patients with Diabetes, Cardiovascular Diseases and Respiratory Illnesses: A Propensity-Matched Cohort Study in Switzerland.» International Journal of Integrated Care, 16(1): 1-18.