Editorial – Kosten versus Versorgung: Jetzt schägt das Pendel in die andere Richtung aus

Bern/ , 16. März 2023
Extreme Positionen werden genutzt, um medial Aufmerksamkeit zu erzeugen und Interessen zum Durchbruch zu verhelfen. Die Wahrheit liegt in der Regel zwischen Schwarz und Weiss. Das galt im vergangenen Jahr bei der Kostendebatte und gilt bei aktuellen Diskussionen um einen behaupteten grossflächigen Versorgungsengpass bei den Medikamenten.
Pius Zängerle, Direktor curafutura

Es ist doch interessant: Im vergangenen Jahr konnten die Schwarzmaler unter den Gesundheitsexperten nicht oft genug betonen, dass sich die Prämienerhöhungen für das Jahr 2023 in einem zweistelligen Prozentbereich bewegen werden. Geworden sind es 6.6 Prozent. In diesem Jahr  verkehrt sich die Diskussion ins Gegenteil. Aus dem Fokus auf die Kosten wird der Fokus auf die Versorgung mit den entsprechenden Hiobsbotschaften. Das Unschöne daran: In beiden Fällen schürt man Ängste bei der Bevölkerung.

Im Fall der Kosten wissen wir inzwischen, dass wir uns im Jahr 2022 ab der zweiten Jahreshälfte wieder auf dem Vor-Corona-Niveau eingependelt haben. Die Nachfrage nach Leistungen ist zwar ungebrochen und in bestimmten Bereichen gar angestiegen. Trotzdem ist das Wort «Kostenexplosion» deplatziert. Im vergangenen Jahr hatten wir in der OKP eine Kostensteigerung pro Person von 2.6 %. Das ist das Niveau, das wir über die vergangenen 10 Jahre sehen (+2.8%). Und verglichen mit dem Massstab der Expertengruppe des EDI, die von maximal 2.7 % Kostensteierung in der OKP pro Jahr spricht, bevor Massnahmen zur Kostendämpfung ergriffen werden sollen, bewegen wir uns im angepeilten Bereich.

Versorgungsengpass oder Lieferengpass?

Wachsamkeit ist auch beim Wort «Versorgungsengpass» angebracht. Haben wir einen Versorgungs- oder  in bestimmten Bereichen einen Liefererengpass? Je nachdem kommen andere Massnahmen zum Tragen. Ein Grossteil davon muss nicht neu erfunden werden. Schliesslich ist das Thema in den vergangenen Jahren in regelmässigen Abständen auf dem Polit-Parkett gelandet und jedes Mal wurde evaluiert, inwiefern der Massnahmenkatalog stimmt.

Wichtig erscheint mir, dass jeder die Verantwortung für seine ihm aufgetragene Funktion übernimmt. So hat das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) die Oberaufsicht über den Medikamentenbestand in den Pfichtlagern. Es führt auch eine laufend aktualisierte Liste mit zugelassenen und erhältlichen Humanarzneimitten. Darauf können die Leistungserbringer zugreifen. Der Arzt wiederum verschreibt das Rezept für seine Patienten. Die Apothekerin steht diesen beratend zur Seite – vor allem auch in Bezug auf die Frage nach der Abgabe eines Generikums oder Biosimilars. Bei Bedarf kann der Apotheker beim Arzt zurückfragen. Anders gesagt: Wir haben genügend Medikamente am Lager. Aber nutzen wir auch die vorhandenen Möglichkeiten aus und sind flexibel im Handeln?

Für Stirnrunzeln sorgt bei mir der Umstand, dass die Verknappung von Medikamenten mit zu tiefen Medikamentenpreisen und Sparrunden begründet wird. Die Schweiz ist betreffend guter Medikamentenversorgung, aber auch betreffend Preise an der Spitze aller europäischen Länder. Die Originalpräparate sind deutlich teurer und die Generika-Preise sind sogar doppelt so hoch wie im Ausland. Am Preis kann es also nur bedingt liegen.

Extreme Voten sorgen für Aufmerksamkeit

Wie muss man nun das alles einordnen? Wie überall auf der Welt vermag man derzeit vor allem mit lauten, extremen Voten für Aufmerksamkeit zu sorgen. Wenig verwunderlich ob der Kommunikationsflut, die mit den sozialen Medien Einzug hielt. Differenzierte Töne sind weniger gefragt. Gerade die Schweiz ist allerdings in der Vergangenheit sehr gut mit wohlüberlegten Entscheiden gefahren. Wohin das Gegenteil führen kann, zeigt das Beispiel zur Zulassung ausländischer Ärzte, das unlängst im Parlament erneut thematisiert wurde. Dass ein Entscheid innert weniger Monate bereits wieder in Frage gestellt und umgestossen wird, darf nicht zur Tagesordnung werden. Sonst wird die Politik unglaubwürdig und das Vertrauen in den Rechtsstaat leidet – zum Nachteil von uns allen.

Viel wichtiger scheint mir daher, die angepeilten und von langer Hand geplanten Reformen bei den ambulanten Arzttarifen, die einheitliche Finanzierung EFAS sowie die Revision der Margen endlich final über die Ziellinie zu bringen. Das mag dramaturgisch zwar weniger medienwirksam inszeniert werden können, ist aber in der realen Welt umso effektiver.