Interview Daniel Höchli: «Mit der einheitlichen Finanzierung können wir zu frühe Eintritte ins Pflegeheim vermeiden»
Bern/ , 6. November 2024Kooperation ist einer der Grundwerte von curafutura: Gute Lösungen entstehen oft aus Partnerschaften zwischen den Akteuren. In diesem Sinne lassen wir in einer Reihe von Interviews die Akteure des Gesundheitssystems zu Wort kommen.
Daniel Höchli, Geschäftsführer von ARTISET, sieht in der Reform der einheitlichen Finanzierung eine einmalige Chance: Sie verleiht einer Pflege Schub, die den Menschen ins Zentrum stellt. Ab 2032 können Pflegebedürftige unbeeinflusst von der Finanzierung entscheiden, ob sie ihre Pflegeleistungen lieber ambulant oder stationär beziehen möchten. Den Pflegeheimen und ihren Mitarbeitenden verschafft die Reform mehr finanzielle Stabilität und Planungssicherheit.
Daniel Höchli ist Geschäftsführer von ARTISET, der Föderation der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf.
Die Kampagne für die einheitliche Finanzierung ist in vollem Gange. Nachdem zwei andere Vorlagen im Juni in der Abstimmung abgelehnt wurden (Prämienentlastungs- und Kostenbremse-Initiative) – ist dies die letzte Chance, unser Gesundheitssystem zu reformieren?
Die einheitliche Finanzierung ist zumindest eine einmalige Chance, die wir einfach nicht verpassen dürfen! Zum ersten Mal seit vielen Jahren stehen nahezu alle Akteure im Gesundheitswesen, in Politik und Wirtschaft geschlossen hinter einer Reform, mit der wir wesentliche Weichen in der Finanzierung des Systems neu stellen können, um die Kosten in den Griff zu bekommen. Wenn wir diese Gelegenheit nicht beim Schopf packen, wird die Türe für die nächsten Jahre wieder zugehen.
Warum ist die einheitliche Finanzierung für die von Ihnen vertretenen Pflegeheime und Wohnheime wichtig?
Auch in der heute geltenden Pflegefinanzierung finden sich zentrale Fehlanreize, die ökonomische Überlegungen vor das Wohl der Patientinnen und Patienten stellen. Zum einen bezahlt die OKP für die gleichen Leistungen im ambulanten Bereich höhere Stundenansätze als im Pflegeheim. Zum anderen führt die kantonale Restfinanzierung zu einer uneinheitlichen Abgeltung von Pflegeleistungen je nach Kanton. Und es mangelt an einer Koordination unter den Finanzierern. So können die Kantone die Restfinanzierung nach unten anpassen, wenn der Bund die OKP-Beiträge erhöht. Dies führt zu fehlender Stabilität bei der Finanzierung der Pflegeheime.
Wird die Reform Auswirkungen auf die Heimbewohner haben? Und wenn ja, werden diese Auswirkungen im Portemonnaie oder in der geleisteten Pflege zu spüren sein?
Für die Bewohnerinnen und Bewohner eines Pflegeheims hat die Gesundheitsreform bis zur Integration der Pflege 2032 keine unmittelbar spürbaren Auswirkungen. Ihre Kostenbeteiligung bleibt auf dem heutigen Stand bestehen. Ab 2036 kann der Bunderat dann neu die Kostenbeteiligung flexibel anpassen. Viel weitgehender aber sind die neuen Möglichkeiten einer pflegebedürftigen Person ab 2032. Sie kann ohne Beeinflussung der Finanzierer wählen, wo und wie sie ihre Pflegeleistungen beziehen will. Dadurch können zu frühe Eintritte ins Pflegeheim vermieden werden. Dies entspricht einem Bedürfnis der pflegebedürftigen Menschen und hat auch ökonomische Vorteile für das Gesamtsystem.
Können Sie uns konkrete Beispiele für die Veränderungen nennen, die die Reform in der Praxis mit sich bringen wird?
Die Entwicklung einer integrierten, d.h. personenzentrierten und durchlässigen Versorgung in der Langzeitpflege bekommt endlich den notwendigen Schub. Aufgrund desselben Finanzierungsschlüssel für die ambulante und stationäre Pflege gibt es für die Finanzierer keine Anreize mehr, ein Setting gegenüber einem anderen zu bevorzugen: Menschen entscheiden sich gemäss ihrem Pflege- und Betreuungsbedarf für das von ihnen favorisierte Pflege-Setting – von der Pflege beim Wohnen zu Hause über das betreute Wohnen bis hin zum Pflegeheim. Speziell das betreute Wohnen würde gestärkt, das heute immer stärker nachgefragt wird und auch Kostenvorteile bringt.
Was ist mit dem Personal? Die Gegner der einheitlichen Finanzierung behaupten, dass es sich Sorgen machen muss. Ist das der Fall?
Im Gegenteil. Mit der einheitlichen Finanzierung wird die Zusammenarbeit unter den verschiedenen Akteuren in der Gesundheitsversorgung verbessert. Die heute bereits stattfindende Kooperation mit den Spitälern im Rahmen der postoperativen Pflege wird sich weiter intensivieren. Dazu kommt in Zukunft auch eine verstärkte Zusammenarbeit mit den ambulant tätigen Akteuren. Damit kann Ressourcenengpässen, administrativen Leerläufen und auch unnötigen Mehrfachbehandlungen entgegengewirkt werden. Mit einer stabilen Finanzierung wird die Planungssicherheit für Arbeitgebende und Arbeitnehmende erhöht und die Pflegefachpersonen können sich wieder stärker auf ihre eigentliche Aufgabe, die Pflege, konzentrieren. Und die Reform schafft die Grundlage für eine personenzentrierte Pflege, die ja auch den Mitarbeitenden am Herzen liegt.
Haben Sie Rückmeldungen von den Pflegekräften erhalten? Haben sie sich bereits ein eigenes Bild gemacht?
In Gesprächen mit Pflegenden spüre ich eine verständliche Ungeduld heraus – diese jedoch eher gegenüber der Pflegeinitiative, deren Umsetzung in konkret spürbare bessere Arbeitsbedingungen nur langsam vorwärts kommt. Mir ist es dann umso wichtiger aufzuzeigen, dass die einheitliche Finanzierung den heutigen Flickenteppich in der Finanzierung der Langzeitpflege beseitigen wird – und damit eine wichtige Voraussetzung für die personenzentrierte Pflege schafft, die, wie gesagt, den Pflegenden ja selbst sehr am Herzen liegt.
Einige befürchten, dass der Bereich der Langzeitpflege in den kommenden Jahrzehnten einen starken Kostenanstieg erleben wird.
Auch wenn ein demografisch bedingtes Wachstum im Bereich der Pflege stattfinden wird, sollte man die Relationen im Auge behalten: Das Kostenwachstum im medizinischen Bereich wird die Zunahme im Pflegebereich in den kommenden Jahren bei weitem übertreffen. Die Kosten im ambulanten Akutbereich belaufen sich heute auf 23 Milliarden Franken, im stationären Bereich beträgt das jährliche Kostenvolumen 13 Milliarden Franken. Für die von Pflegeheimen und der Spitex erbrachten Pflegeleistungen fallen dagegen jährliche Kosten von 6 Milliarden Franken an. Der Kostenblock der Pflege ist also viermal kleiner als der Block der ambulanten medizinischen Leistungen. Seit 2014 sind die Kosten im ambulanten Akutbereich um 7 Millarden Franken gestiegen, in der Pflege dagegen lediglich um 1.6 Milliarden.
Und besteht die Gefahr, dass dies langfristig zu einem Problem für die Prämienzahlenden wird?
Trotz der demografisch bedingten Zunahme von Pflegeleistungen wird in den nächsten Jahren kein durch die Pflege ausgelöstes Prämienwachstum ins Gewicht fallen. Denn mit der einheitlichen Finanzierung findet eine ganzheitliche Betrachtung bei der Kostenentwicklung statt. Auch wenn die Pflege zulegt, so sind die Entlastungen der Prämienzahlenden durch die Beteiligung der Kantone im ambulanten Bereich weit höher zu gewichten. Zudem: Der neue Finanzierungsschlüssel zwischen OKP und Kantonen ist nicht in Stein gemeisselt. Im Gesetz ist explizit festgehalten, dass der Bundesrat den Mindestsatz der Kantone periodisch überprüft. Das Parlament kann den Finanzierungsschlüssel für die Grundversorgung je nach Entwicklung der Kostenanteile jederzeit justieren.
Die einheitliche Finanzierung beschleunigt die Verlagerung in die ambulante Versorgung. Das macht Ihnen doch Konkurrenz, oder?
ARTISET und CURAVIVA begrüssen explizit die Auflösung des Silodenkens. Mit Blick auf die pflegebedürftigen Menschen braucht es keine Konkurrenz zwischen ambulanter und stationärer Pflege. Gefragt ist vielmehr ein gutes Zusammenspiel von Spitex und Pflegeheimen, um bedarfsgerechte Angebote und gute Übergänge zwischen diesen zu gewährleisten. Die einheitliche Finanzierung gibt dazu den notwendigen Schub, indem die ambulante und stationäre Pflege nicht mehr wegen unterschiedlicher Finanzierung gegeneinander ausgespielt werden können.
Die einheitliche Finanzierung der Leistungen der Akutpflege beginnt 2028, gefolgt von den Leistungen der Langzeitpflege 2032. Sie haben also etwas mehr Zeit für die Umsetzung. Was werden die wichtigsten Schritte bei dieser Umsetzung sein? Werden Sie viel zu tun haben?
Mit der Annahme der Vorlage wird einiges an Arbeit auf uns zukommen. Die Vorarbeiten für den Aufbau der Tariforganisation haben bereits begonnen. Die Tariforganisation wird ab dem kommenden Jahr von den Leistungserbringern, der Kantone und der Versicherer auf nationaler Ebene aufgebaut. Es braucht eine vollständige Kostentransparenz auf einer einheitlichen und vergleichbaren Datenbasis. Es erwartet uns viel Arbeit, doch wir freuen uns darauf, wenn es dadurch gelingt, die Finanzierung einer effizienten Leistungserbringung in der Langzeitpflege sicherzustellen.