Interview Jacques-André Haury: «Ärzte und Medien befinden sich in einer symbiotischen Beziehung, die die Kosten in die Höhe treibt»

Bern/ , 17. April 2024

Kooperation ist einer der Grundwerte von curafutura: gute Lösungen enstehen oft aus Partnerschaften zwischen den Akteuren. In diesem Sinne lassen wir in einer Reihe von Interviews die Akteure des Gesundheitssystems zu Wort kommen.

Jacques-André Haury sagt, der technologische Fortschritt sei für die steigenden Kosten im Gesundheitswesen verantwortlich. Seine Forderung als Arzt und Politiker ist klar: Die Ärzteschaft und die Medien müssen stärker die Kosten im Fokus haben, die sie direkt und indirekt verursachen.

Jacques-André Haury praktizierte als Hals-Nasen-Ohrenarzt in Lausanne, seit 1998 vertritt er Lausanne im Waadtländer Kantonsparlament. Er ist Mitglied der Grünliberalen Partei.

Jacques-André Haury (71) empfängt in seinem Privathaus in einem Quartier oberhalb von Lausanne. Wir stehen auf der Terrasse, schauen gemeinsam hinunter auf den Lac Léman – und wenn man dem pensionierten Arzt so zuhört, denkt man: Es ist dieser Blick von der erhöhten Plattform, diese Weitsicht, die im heutigen Gesundheitswesen oft fehlt.

Im Sinne dieser Weitsicht lenkt Jacques-André Haury unsere Aufmerksamkeit auf zwei Akteure, «die im öffentlichen Diskurs um die steigenden Prämien immer wieder vergessen gehen»: Die medizinischen Fakultäten und die Medien.

Wie gut ist unser Gesundheitssystem?

Um ganz ehrlich zu sein, handelt es sich um ein System, das nicht sehr gut funktioniert, in dem aber am Ende der Kette die Menschen dennoch recht gut versorgt werden. Weil wir uns diese Ineffizienz im Moment noch leisten können…

…und jedes Jahr mehr dafür bezahlen. Was sehen Sie als wichtigen Kostentreiber?

Die gängige Erklärung dafür ist die Überalterung der Bevölkerung. Ich glaube, wir müssen anerkennen, dass dies nicht der entscheidende Faktor ist. Es ist der technische und technologische Fortschritt.

Wie das?

Jedes Mal, wenn Sie einer Patientin oder einem Patienten eine zusätzliche Leistung anbieten können, für die er nicht selber aufkommen muss, ist das natürlich interessant. Sowohl für den Patienten als auch für den Leistungserbringer.

Dennoch wollen Sie sicher nicht gegen den Fortschritt plädieren?

Nein. Probleme tauchen auf, wenn der Fokus hauptsächlich auf dem technischen Fortschritt ist, und Wirtschaftlichkeit sowie Effizienz zu wenig in die Betrachtung miteinbezogen werden. Diese Frage ist zentral – und wird in der Praxis kaum gestellt: Was kostet eine Behandlung und wie gross ist der Nutzen, den sie bringt? Dass Pharmafirmen diese Fragen nicht stellen, ist nachvollziehbar, aber weshalb stellen sie die Ärzte nicht? Und die Universitäten?

Weshalb nicht?

Bei medizinischen Kongressen wird nie über Geld gesprochen. Und bei Podiumsdiskussionen oder Seminaren, bei denen über die Gesundheitskosten diskutiert wird, nehmen kaum Mediziner teil. Ihre Stimme fehlt. Oder vielleicht treffender: Sie entziehen sich dieser Diskussion. Denn für einen Universitätsprofessor gehört es sich nicht, über Geld zu sprechen. Und so werden die medizinischen Fakultäten selber zu Kostentreibern.

Sind sie sich bewusst, dass sie die Gesundheitskosten in die Höhe treiben?

Ich denke nicht. Dass dem nicht so sein muss, sieht man in der Zahnmedizin. Auf den Kongressen der Zahnärzte wird über den Preis eines neuen Implantats gesprochen und dieser ins Verhältnis mit dem alten Implantat gerückt. Der Preis spielt eben eine Rolle, sobald eine direkte Geschäftsbeziehung zwischen Kunde und Leistungserbringer besteht.

Politische Verantwortung für die Kosten: Als Abgeordneter des Waadtländer Grossen Rates erwartet Jacques-André Haury von Ärzten und Medien mehr Sensibilität und Umsicht in Bezug auf die von ihnen verursachten Kosten.

Sie machen auch die Medien für den Kostenanstieg verantwortlich. Weshalb?

Weil auch sie die finanzielle Frage auslassen. Sie thematisieren viel zu selten die Kosten von technischen Neuerungen. Ich erwarte von den Medien mehr kritisches Hinterfragen.

Die Ärzte auf der einen Seite; die Medien auf der anderen. Zwei Einflüsse auf die Kosten, die sich summieren?

Es ist sogar noch mehr als das: Ärzte und Medien stehen in Wirklichkeit in einer symbiotischen Beziehung, wenn es um ihren Einfluss auf die Kosten geht. Die Medien berichten gerne über neue Medikamente oder neue Behandlungsmethoden, überhaupt über Innovation in der Medizin und der Pharma. Dann wird ein spezialisierter Arzt, eine Professorin oder eine Forscherin interviewt, die den Fokus natürlich auf die Vorteile legt, vielleicht auch noch auf Nebenwirkungen hinweist. Aber kaum je wird die Frage nach dem Nutzen gestellt: Wie viel kostet das? Welchen Mehrwert hat es im Vergleich zu bisherigen Behandlungen? Wahrscheinlich wüssten sie die Antwort gar nicht.

Wirklich?

Ich habe mal einen Professor am Unispital Lausanne (CHUV) darauf hingewiesen, dass das Medikament, das er verschreibt, im Vergleich zu anderen Behandlungsmöglichkeiten sehr teuer ist. Er antwortete mir: «Ich interessiere mich schon lange nicht mehr für die Gesundheitskosten.»

Was muss sich ändern, damit sich die Professoren dafür interessieren?

Die Medien sollten immer auch die Frage nach den Kosten stellen: Kostet das 2000 Franken, oder 1000 oder vielleicht sogar 4000? Wenn es sich um eine präventive Behandlung handelt, sollte auch die number to treat im Fokus sein, die NTT? Verhindert diese Massnahme ein Ereignis in 10, 100 oder 1000 Fällen? Auf diese beiden grundlegenden Fragen haben Ärzte in der Regel keine Antwort. Ich übrigens hatte auch keine, als ich noch praktizierte.

Ein Rezept gegen steigende Kosten: Der Arzt kennt nicht nur die Nebenwirkungen des Medikaments, das er verschreibt, sondern auch seinen Preis.

Mangelt es an Transparenz oder an Interesse?

Vielleicht fehlt es an Transparenz. Und dann gibt es immer noch das Argument der Ethik, das besagt, dass der Preis keine Rolle spielen darf. Denn das Wohl des Patienten stehe über allem. Aber das ist eher eine Ausrede, um sich nicht für die Kosten interessieren zu müssen. Das funktioniert schon sehr lange so. Als junger Arzt sagte man mir bereits, dass der Chef einem immer die Untersuchung vorwirft, die man nicht angeordnet hat, aber nie jene, die man zu viel gemacht hat.

Wie sorgt man für dieses Interesse?

Aus meiner Sicht ist es die Ausbildung, die das Verhalten der Ärzte beeinflusst. Zudem müsste es doch mit Hilfe der Informatik möglich sein, die Kosten der einzelnen Massnahmen einfach einzublenden: Sie kreuzen ein einfaches oder vollständiges Blutbild an, dann stehen da 60 Franken oder 80 Franken. Plus ein MRI, macht plus 1’200 Franken. Der einfachste Weg ist aus meiner Sicht der effektivste: Die finanziellen Auswirkungen jeder einzelnen verschriebenen Untersuchung oder Behandlung sollten ausgewiesen werden.

Wie sehen Sie die Zukunft unseres Gesundheitssystems? Wird es uns gelingen, die Kostenspirale zu unterbrechen?

Realistisch ist vielleicht, sie zu bremsen. In diesem Zusammenhang sehe ich die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen (EFAS) als wichtiges Projekt, das die Interessen der Kantone und der Versicherer viel besser in Einklang bringt. Ich verspreche mir davon die Förderung einer qualitativ hochwertigen, angemessenen und finanzierbaren Gesundheitsversorgung. Und bei der Tarifierung mit Pauschalen gibt es keine finanziellen Anreize mehr, teure Untersuchungen oder Behandlungen hinzuzufügen. Es geht darum, dass wir es wagen, Gewohnheiten zu hinterfragen.