Mathias Früh: «Wir lassen jedes Jahr hunderte Millionen Sparpotenzial ungenutzt»

Bern/ , 30. November 2021
Mathias Früh ist Statistiker und Ökonom und leitet das Team Gesundheitspolitik & Public Affairs beim Krankenversicherer Helsana.

Mathias Früh ist Auftraggeber des jährlichen Helsana-Report: Arzneimittel. Dieser weist seit Jahren auf ein riesiges Sparpotenzial hin: Generika und Biosimilars. Dass dieses Potenzial ungenutzt bleibt, findet der Gesundheitsökonom stossend.

«Die innovativen Krankenversicherer» steht im Untertitel von curafutura. Was haben Generika und Biosimilars heute noch mit Innovation zu tun?
curafutura und ihren Mitgliedern ist es sehr wichtig, das Gesundheitssystem in der Schweiz voranzutreiben und mit innovativen Vorschlägen und Ansätzen weiterzubringen. Und ein wichtiger Teil dieses Systems sind die Arzneimittel. Das ist ein dynamischer Sektor, mit dem viel Entwicklung und eben auch Innovation einhergeht. Wir erarbeiten konkrete Vorschläge, damit das System auch in diesem Bereich besser wird und der Innovation des Marktes nicht hinterherhinkt.

Welche Rolle spielen die Medikamente im Gesundheitssystem?
Die Rolle der Pharma innerhalb der medizinischen Versorgung ist sehr relevant. Und sie dürfte in Zukunft noch wichtiger werden. In der Schweiz werden jedes Jahr 7,7 Milliarden Franken für Medikamente ausgegeben. Es ist ein stark wachsender Markt in der Medizin, wahrscheinlich jener, der derzeit am stärksten wächst. Zahlreiche Krankheiten, bei denen man früher operieren musste oder es gar keine Therapie gab, können heute medikamentös behandelt werden.

Sie sind bei Helsana verantwortlich für den Helsana-Report: Arzneimittel. Welche Erkenntnisse bringt die just erschienene Ausgabe?
Viele – immerhin ist der Bericht mehr als 100 Seiten dick. Betrachten wir den Gesamtmarkt, steigen die Kosten stetig. Im Bereich der Onkologie zum Beispiel beobachten wir ein Umsatzwachstum von rund 100 Millionen Franken jedes Jahr, manche Medikamente sind enorm teuer. Da kann eine Packung auch mal mehrere tausend Franken kosten.

Damit man weiss, wovon man spricht: Die jährlichen Arzneimittelberichte von Helsana.

Ist das viel oder zu viel?
Für mich ist klar, in der Schweiz sind die Preise zu hoch, vor allem bei den neuen Medikamenten. Die Regeln für die Preisbildung müssen angepasst werden. Zum Beispiel werden die Folgekosten für das Gesundheitssystem heute nicht berücksichtigt, was immer wieder zu enormen Kosteneffekten führt. Sparpotential ist also vorhanden, aber nicht nur bei den neuen Medikamenten, sondern auch im patentabgelaufenen Bereich.

Da wären wir bei den Generika und Biosimilars…
… und eben bei einem Sparpotenzial, um das man seit Jahren weiss, das aber dennoch ungenutzt bleibt. Generika und Biosimilars sind Nachahmerprodukte, die nach dem Patentablauf des Originals auf den Markt kommen. Sie sind günstiger, aber gleich sicher und wirksam – Sie kommen jedoch in der Schweiz nicht richtig zum Fliegen. Das möchten wir ändern.

Weshalb wird dieses Potenzial nicht genutzt?
Das Hauptproblem ist die Vertriebsmarge. Die heutige Margenverordnung bietet Apothekern, Ärztinnen und Spitälern wenig Anreize, das günstigere Medikament abzugeben. Sie verdienen selber mehr an der Abgabe des teureren Originalprodukts als an der Abgabe eines Generikums oder Biosimilars. Es muss daher ein System geschaffen werden, dass solche Fehlanreize eliminiert.

Was wäre aus Ihrer Sicht die Lösung?
Eine preisunabhängige Fixmarge für die Abgabe der Medikamente. Für jede Abgabe, egal ob Original oder Nachahmerprodukt, bekommt der Arzt gleich viel. So ist der Fehlanreiz beseitigt. Übrigens schon eine uralte Forderung von uns.

Ohne dass sich etwas bewegt hat?
Genau, passiert ist nichts! Allerdings wird der Vorschlag nun nicht nur von den Versicherern, sondern auch von den Apothekern und Ärztinnen und auch von der Politik unterstützt.

Frustrierend?
Ja, manchmal schon. Wir haben eine Lösung entwickelt, die auf Verordnungsebene rasch und effizient umgesetzt werden könnte. Eine Massnahme mit einem sofortigen Spareffekt von mehreren 100 Millionen Franken. Gleichzeitig diskutieren wir über Kostendämpfungspakete, von einem politischen Prozess über mehrere Jahre, bei dem ich der Ansicht bin, dass damit überhaupt nichts gespart werden kann. Das ist halt Politik.

Wer rechnen kann, kauft Generika. Wer rechnen kann, verkauft keine Generika. Dank eines Fehlanreizes stimmt beides.

Wie gross ist denn das Potenzial bei den Generika und Biosimilars?
Mehrere hundert Millionen. Pro Jahr. Nur schon bei den Biosimilars waren es alleine 2020 rund 100 Millionen bei lediglich 13 Medikamenten, von denen heute Nachahmerprodukte auf dem Markt sind. Es werden nun laufend weitere Patente ablaufen, entsprechend steigt das Potenzial.

Wie hoch sind die Anteile an Nachahmerprodukten bei der Abgabe?
Bei Generika liegt der Anteil bei 23 Prozent, bei den Biosimilars bei 13 Prozent. In Deutschland liegen diese Quoten drei- bis viermal höher, sprich bei Generika bei über 80 Prozent. Das hat noch einen weiteren Effekt: In Deutschland gibt es viel mehr Nachahmerpräparate auf dem Markt, weil es eben ein attraktiver Markt ist.

Dass dieses Sparpotenzial nicht genutzt wird
… ist eigentlich ein Skandal.

Das Gesundheitswesen ist träge, gehört das nicht zum Spiel?
Wir kämpfen im Interesse unserer Kundinnen und Kunden für ein effizientes System. Unsere Rolle ist es, aufzuklären und Systemwissen zu vermitteln, damit die Politik und letztlich auch die Bevölkerung versteht, weshalb die Versicherer Forderungen stellen und weshalb diese Forderungen sinnvoll sind. Das machen die anderen Akteure des Gesundheitswesens auch, das gehört zum Spiel, entsprechend komplex und nicht unbedingt dynamisch ist es, Verbesserungen zu erzielen. Bei den Generika und Biosimilars gibt ist es aber einen breiten Konsens und trotzdem geht es nicht richtig weiter.  

Was treibt Sie an, sich zu engagieren?
Ich glaube, wir haben in der Schweiz ein gutes Gesundheitssystem, das noch erheblich optimiert werden kann. Ich sehe es als meine Aufgabe an, das Potenzial für solche Verbesserungen zu identifizieren und beizutragen, es zu realisieren. Es geht nicht nur darum, Kosten zu sparen, das wäre aus meiner Sicht der falsche Ansatz. Es geht darum gewisse Ineffizienz zunächst zu erkennen und dann zu beseitigen. Und wie ich schon gesagt habe: Es braucht keine neuen Gesetze, um das Gesundeitswesen voran zu bringen.