Reserven: Nationalrat spricht sich für verbindliche Obergrenze aus – ausgerechnet in dem Moment, wo die Volatilität der Solvenzquote sich erneut bestätigt

Bern/ , 23. Juni 2022

Der Nationalrat hat sich für die Einführung einer verbindlichen Obergrenze für die Reserven der Krankenversicherung ausgesprochen. Das angepeilte Ziel sind 150% der Solvenzquote. Unmittelbar nach diesem Entscheid zeigen neue Zahlen des Bundesrats: Die Solvenzquote ist im Vergleich zum Vorjahr um 50 Prozentpunkte gesunken. Damit bestätigt sich, was die Krankenversicherer seit langem sagen: Das Spiel damit ist heikel. Die Folgen eines zu starken Eingriffs sind negativ. Dafür gibt’s Beispiele aus der Ära Couchepin.

Der Nationalrat hat sich am 9. Juni für die parlamentarische Initiative Nantermod 20.463 ausgesprochen. Der Initiant schlägt die Einführung einer verbindlichen Obergrenze für Reserven vor und definiert diese bei 150% der Solvenzquote. In der Praxis bedeutete dies: Sobald die Reserven eines Versicherers dieses Niveau überschreiten, müssten sie im folgenden Jahr durch Rückzahlungen an die Versicherten reduziert werden, damit die Solvenzquote wieder unter 150% sinkt. Auf dem Papier mag die Idee harmlos und sogar sympathisch erscheinen, da die Versicherten vom Reservenabbau profitieren würden. Der Vorschlag wurde vom Nationalrat mit einer klaren Mehrheit angenommen, mit 107 Ja gegen 58 Nein bei einer Enthaltung.

Doch am nächsten Tag erinnerten neue Zahlen des Bundesrates daran, dass die Reserven in erster Linie ein technisches Instrument bleiben und dass diejenigen, die ein nach politischen Kriterien festgelegtes Korsett aufzwingen wollen, eher dem Zauberlehrling als Robin Hood nahe sind.

In seiner Antwort vom 10. Juni auf die dringliche Anfrage Lohr 22.1023 gibt der Bundesrat Auskunft über die Entwicklung der Solvenzquote zwischen 2021 und 2022. Diese Information ist für die hier behandelte Frage von entscheidender Bedeutung. So erfährt man, dass die durchschnittliche Solvenzquote der Versicherer von 207% im Jahr 2021 auf eine Spanne zwischen 140% und 170% im Jahr 2022 gesunken ist. Mit anderen Worten, es hat in nur einem Jahr einen Rückgang um circa 50 Prozentpunkte gegeben (207% auf 155%).

Darüber hinaus sollte der Grund für diesen Rückgang unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Laut der Antwort des Bundesrates ist der Grund für den Rückgang der Solvenzquote vor allem im gestiegenen versicherungstechnischen Risiko zu verorten. Daraus folgt: Die Solvenzquote ist nicht deshalb stark gesunken, weil sich die Höhe der Reserven stark verändert hat, sondern nur, weil sich einer der Parameter zur Berechnung der Solvenzquote verändert hat. Dies zeigt einmal mehr die hohe Volatilität der Solvenzquote, die neben dem versicherungstechnischen Risiko auch vom Kredit- und Marktrisiko abhängt. Wie schnell auch hier der Wind drehen kann, sehen wir aktuell.

Nachvollziehbare Begründung? Schwierig!

Vor diesem Hintergrund ist es schwer vorstellbar, mit welcher Begründung das Parlament an der  Idee einer verbindlichen Obergrenze für die Reserven auf der Grundlage einer Solvenzquote festhalten möchte, die naturgemäss von Jahr zu Jahr erheblichen Schwankungen unterliegt. Das beste Beispiel kennen wir aus der Ära Couchepin. Er erzwang eine Nullrunde, die später mittels Reserven kompensiert werden musste. Und aus der aktuellen Zeit: Man muss sich nur vorstellen, was in diesem Jahr passiert wäre, wenn der Ausgangspunkt nicht eine durchschnittliche Solvenzquote von 207%, sondern bei einer Quote von unter 150% gewesen wäre. Ein Rückgang um 50 Prozentpunkte hätte dann zu einer Solvenzquote unterhalb der Untergrenze von 100% geführt. Die Mehrheit der Versicherer hätte sich in der Illegalität wiedergefunden und wäre gezwungen gewesen, Reserven zu äufnen, indem sie die Prämien stärker als die Kosten erhöht hätten.

Jo-Jo-Effekt mit Folgen

Kurzum: Die Versuchung, eine verbindliche Obergrenze für die Reserven festzulegen, führt unweigerlich zu einem Jo-Jo-Effekt bei den Prämien. Es würde abwechselnd Jahre geben, in denen die Reserven reduziert werden müssten, was die Prämienlast senken würde, und andere Jahre, in denen neben der Deckung des Kostenanstiegs auch die Reserven wieder aufgefüllt werden müssten, was zu einem künstlichen Anstieg der Prämien führen würde.

Umgekehrt ermöglicht die aktuelle Situation den Versicherern, die Prämienentwicklung zu glätten. Sie können nämlich abwägen, ob es sinnvoll ist, Reserven abzubauen und Rückzahlungen an die Versicherten vorzunehmen, wenn sie über ausreichende Reserven verfügen. Sie führen diese Analyse mit einer langfristigen Perspektive durch. Das Hauptziel besteht darin, zu einer gleichmässigeren Entwicklung der Prämien beizutragen und den Auswirkungen der unregelmässigen Kostenentwicklung entgegenzuwirken. Diese unternehmerische Verantwortung sollte nicht durch politische Eingriffe zerstört werden.