Sanjay Singh: „Wir konnten 649 Millionen Franken aufspüren, die unrichtig waren oder unnötig in Rechnung gestellte Leistungenaufwiesen“
Bern/ , 2. November 2021Die Krankenversicherer spielen bei der Kontrolle der Gesundheitskosten eine zentrale Rolle. Um diesem Auftrag gerecht zu werden, arbeiten Tarifspezialisten, medizinische Experten und Datenanalytiker, aber auch ehemalige Polizisten gemeinsam daran, Fakturierungsfehler und Missbrauch aufzuspüren. Sanjay Singh, Leiter Leistungen und Produkte bei der CSS, erklärt uns die verschiedenen Schwerpunkte seiner Strategie.
Sie müssen enorm viele Rechnungen kontrollieren. Wie schaffen Sie es, ein solches Datenvolumen zu bewältigen?
Im vergangenen Jahr gingen bei uns 19,2 Millionen Rechnungen ein. Die Digitalisierung hilft uns bei der Bearbeitung dieser Informationsflut: Der überwiegende Teil der Leistungsrechnungen erreicht uns digital.. Aber auch so scannen wir jährlich mehrere Millionen Papierrechnungen ein.
Wie schnell erfolgt diese Entwicklung hin zur Digitalisierung? Wird es bald möglich sein, beim Eingang der Rechnungsdaten alles zu automatisieren?
Die Entwicklung ist sehr schnell. 2013 betrug der Automatisierungsgrad bei der Kontrolle 63%, heute sind wir bei über 83%. Allerdings wird zu einem noch unbekannten Zeitpunkt die Grenze der Möglichkeiten erreicht sein. Auch in Zukunft werden unsere Fachleute weiterhin einen Teil der Rechnungen eigens kontrollieren müssen.
Inwiefern lohnt sich diese Rechnungskontrolle? Kann man die erzielten Einsparungen beziffern?
Ja, im vergangenen Jahr konnten wir 649 Millionen Franken aufspüren, die unrichtig waren oder unnötig in Rechnung gestellte Leistungen aufwiesen. Diese Zahlen muss man allerdings mit einer gewissen Zurückhaltung beurteilen, denn sie fallen von Jahr zu Jahr unterschiedlich aus. Auf jeden Fall zeigt sich, dass Kontrollen nötig sind.
Sie sagen, man müsse die Zahlen mit Vorsicht geniessen. Besteht das Ziel nicht darin, ein Maximum an Fehlern aufzudecken, um möglichst viel einsparen zu können?
Nicht zwingend. Diese Kontrollen haben auch eine präventive Wirkung. Wenn wir feststellen, dass ein Leistungserbringer immer die gleichen Fakturierungsfehler macht, suchen wir den Dialog mit ihm, um eine nachhaltige Lösung zu finden, statt seine Rechnungen systematisch anfechten zu müssen. Es geht also nicht darum, um jeden Preis Einsparungen zu erzielen, sondern sicherzustellen, dass alles, was bezahlt wird, den tatsächlich erbrachten Leistungen entspricht. Dabei ermöglicht die Kontrolle auch, die Praxis der Leistungserbringer anzupassen, sodass sie den gesetzlichen Vorgaben entspricht.
Gewisse Leistungserbringer beklagen sich manchmal über diese Kontrolle und sprechen von einem hohen Druck. Aber was würde geschehen, wenn man auf die Kontrolle der Rechnungen verzichten würde?
Das hätte eine massive Verteuerung des Gesundheitswesens zur Folge. Die Lage würde sich sehr schnell verschlechtern, denn wie gesagt, werden nicht nur Zahlungen eingespart, sondern es besteht auch eine präventive Wirkung. Ausserdem stellen uns nicht nur die Leistungserbringer, sondern auch die Versicherten manchmal Rechnungen zu, ohne zu wissen, dass es sich um nicht vergütbare Leistungen handelt.
Wo lauern eigentlich die meisten Stolpersteine? Handelt es sich um Fehler oder eher um Missbrauch?
Den grössten Teil machen Fakturierungsfehler aus. Es besteht aber auch eine Überversorgung, das heisst, es werden zwecklose Leistungen erbracht. Solche Probleme lassen sich beispielsweise erkennen, indem wir die Kosten pro Leistungserbringer analysieren und mit dem Durchschnitt vergleichen. Und dann gibt es natürlich auch Betrugsfälle mit einer Täuschungsabsicht, um sich auf dem Rücken der Prämienzahler zu bereichern.
Wie deckt man solche Missbräuche auf? Ist das nicht ein Ding der Unmöglichkeit, wenn wirklich eine Täuschungsabsicht dahintersteckt, zum Beispiel mit Fälschungen?
Glücklicherweise steht uns eine breite Palette an Werkzeugen zur Verfügung, mit denen wir vieles sehen. Einerseits handelt es sich um neue Technologien mit Datenanalysen, Machine Learning und künstlicher Intelligenz. Manchmal ist es am wirksamsten, auf ganz einfache Techniken zurückzugreifen, zum Beispiel den Patienten zu befragen. So können Ungereimtheiten aufgedeckt werden, die auf einer formell «korrekt» erscheinenden Rechnung gar nicht ersichtlich sind.
Was kann man bei der Kontrolle der Kosten und der Rechnungen noch verbessern?
Einerseits sicher die Technik. Aber ich würde vor allem sagen, dass Patient und Versicherter heute unzureichend eingebunden werden. Die effizienteste Kontrolle einer Rechnung ist nämlich die, die der Patient selbst durchführt, denn er weiss genau, welche Leistungen erbracht wurden. Andererseits muss über die Kostenfrage informiert und dafür sensibilisiert werden. Das heisst nicht notgedrungen, dass man auf Leistungen zu verzichten hat. Aber man muss wissen, wo man welches Behandlungsangebot nutzen soll. Ich denke da zum Beispiel an die Notfallstationen, die im Vergleich zum tatsächlichen Bedarf klar zu oft aufgesucht werden, und dies wiederum verursacht anschliessend unnötige Kosten.