Simple Rezepte? Lieber ausgereifte Produkte mit echtem Mehrwert!

Bern/ , 20. Oktober 2023

Das Magazin des Tages-Anzeigers hat Anfang Oktober eine Reportage publiziert mit dem Titel «Auf Stammtisch-Tour durch die Schweiz». Journalisten des Magazins wollten wissen, wo Herrn und Frau Schweizer vor den Wahlen der Schuh drückt. Dazu haben sie sich am Stammtisch in Altdorf, in Schwyz, in Muotathal (SZ), in Zürich, Olten und Bern umgehört. Fazit: Schweizerinnen und Schweizern geht es gut. Gesundheitspolitik kommt quasi nicht zur Sprache, obschon Thema Nummer 1 im Wahlkampf und im Sorgenbarometer ganz oben. Einzig die Muotathaler diskutieren am Rande über Physiotherapie. Ansonsten bewegt die Gemüter politisch, wenn überhaupt, der Wolf. Wie passt das zusammen?

Auf der einen Seite haben wir auf das kommende Jahr eine markante Prämienerhöhung von 8.7%, die uns alle belastet und eine ungemütliche Entwicklung darstellt. Entsprechend dominant ist das Thema in den Medien. Auf der anderen Seite beschäftigen sich die Schweizerinnen und Schweizer weitaus weniger mit Gesundheitspolitik als die Medienberichterstattung vermuten lässt. FMH-Präsidentin Yvonne Gilli bezeichnete in einem Beitrag in der Schweizerischen Ärztezeitung SAEZ von Mitte Oktober die Mischung aus steigenden Prämien und nationalen Wahlen als toxisch. Weil viele Voten nur auf Ideologie und Schuldzuweisung abzielten, ohne entsprechende Rezepte oder mit wenig tauglichen.

Was bleibt hängen?
Mich treibt in diesem Kontext vor allem eine Frage um: Was bleibt von all den Ideen nach den Wahlen übrig? Denn wenn schon viel Lärm, dann wenigstens solcher, der zurecht Aufmerksamkeit generiert. Mit einer Rezeptur, die das an sich gute Gesundheitssystem verbessert – qualitativ UND Kosten dämpfend. Diese Kombination ist per se anspruchsvoll. Oftmals geht Kostendämpfung mit Abstrichen am Status Quo einher. Oder mit sinnloser Bürokratie. Und Verbesserung am System bedeutet nicht selten Mehrausgaben.

Gute Reformen bringen beides. DAS muss unser Gradmesser sein. Hier setze ich viele Fragezeichen hinter die aktuellen Vorschläge.

DIE 10 %-Inititative mag sozialpolitisch Linderung verschaffen, sie verbessert aber weder das System an sich noch führt sie zur Kostendämpfung. Auch der  Vorschlag einkommensabhängiger Versicherungsprämien führt zu Komplexität und Aufwand. Die Kostenbremse-Initiative verbessert weder den Status Quo noch führt sie zur Optimierung. Nur schon mit dem indirekten Gegenvorschlag dürfte es noch mehr Blockaden geben.

Die Neuauflage der Einheitskassendiskussion bringt wohl auch keine neuen Erkenntnisse. Bei aller Kritik am Geschäftsverhalten von Krankenversicherern: Sie haben im Vergleich zu andern Sozialversicherungen tiefe Verwaltungskosten. Eine Einheitskasse brächte mehr Bürokratie ohne am Grundproblemen des Prämienwachstums etwas zu ändern.

Aktuell gibt es drei Reformen, die echte Kostendämpfung und Systemverbesserung bringen: Es sind dies die Einführung des ambulanten Arzttarifs TARDOC mit Pauschalen (sofern diese Tarife genehmigt werden). Die einheitliche Finanzierung EFAS. Und die Revision der Marge, damit der Apotheker beim Verkauf eines Originalmedikaments nicht mehr verdient als mit einem Generikum. Alle drei Reformen beheben grosse Fehlanreize und verbessern dadurch das System. Alle drei dämpfen die Kosten. TARDOC aufgrund der Kostenneutralität für drei Jahre (600 Mio.). EFAS weil wir mehr günstig ambulant behandeln und die koordinierte Versorgung einen Schub erhält, was Doppelspurigkeiten verhindert (1 bis 3 Mia. gemäss Studien). Die Margenrevision, weil es der Durchbruch für mehr Generika ist (60 Mio. plus mehrere 100 Mio. aufgrund von Nachfolge-Effekten).

Die drei Reformen haben Gemeinsamkeiten: Sie sind seit über 10 Jahren unterwegs. Sie sind notwendig und reif, aber weder interessant noch extravagant. Ganz anders die aktuellen Vorschläge der Parteien. Hier gehen die Emotionen hoch. Hier liegt der Fokus auf dem Ideengeber. Das ist wahlkampftechnisch optimal.

Staatsepidemiologe Tegnell: «Gegen simple Lösungen bin ich zutiefst skeptisch»
Der ehemalige schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegenell sagte einmal etwas, das mich aufhorchen liess: «Gegen simple Lösungen bin ich zutiefst skeptisch.» Weil sie in der Umsetzung meist viele Fehler zu Tage förderten. Ich gebe Tegnell insofern recht, als dass mir simpel zwar lieb ist, da schnell erfassbar. Aber gerade die Debatten um EFAS, TARDOC und Margenrevision zeigen, dass erst in der Auseinandersetzung mit dem Thema die Herausforderungen klar werden. Und wie schwierig es ist, eine kooperative Lösung hinzubekommen in einem System wie der Schweiz mit vielen Akteuren, die alle angehört werden wollen und mitreden können.

Letztlich obsiegt der Kompromiss, bei dem alle Abstriche zugunsten des neuen Produkts machen müssen. curafutura ist der Durchbruch bei der Margenrevision mit pharmaSuisse, FMH und H+ gelungen, bei EFAS mit 22 namhaften Verbänden sowie beim TARDOC mit der FMH, MTK und SWICA – und neuerdings auch mit Santésuisse und H+ in der Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Tarifbüro. Die lange Reifezeit der Projekte zeigt, dass es schnelle Lösungen auf Knopfdruck nicht gibt. Schon gar nicht in der Schweiz, die alle Vor- und Nachteile so lange abwägt, bis die «kluge» Lösung da ist. In der Vergangenheit sind wir für unser Abwägen belohnt worden. Und heute? Nach wie vor bin ich überzeugt, dass unser föderales System viele Vorteile hat –  auch wenn sich die Welt immer schneller dreht. Irgendwann ist aber in jeder Debatte der Moment gekommen, um über den Schatten zu springen. Ich meine, das sei bei allen drei Reformen jetzt. Sonst kommt der Absturz.

Die Schweiz hat – allen Unkenrufen und negativen Berichterstattungen zum Trotz – nach wie vor eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Das hat seinen Preis. Schrauben wir wie wild daran herum und bewegen uns in alle Richtungen, laufen wir Gefahr, mehr zu verlieren, als uns lieb ist. Das neue Parlament muss unter neuem Bundesrat reife Projekte wie EFAS übernehmen. Und ein neuer Bundesrat wird bald über den ambulanten Arzttarif entscheiden müssen. Damit Platz für Neues entsteht, das dann 2030, 2040 oder vielleicht auch erst 2050 (!) zur Einführung bereitstehen wird. Ginge es schneller, wäre es eine erfreuliche Überraschung.