Stefan Felder: «Es muss eine Grenze geben, an der die Verantwortlichkeit des Staates aufhört und die der Privatpersonen beginnt»

Bern/ , 23. August 2023

Kooperation ist einer der Grundwerte von curafutura: gute Lösungen enstehen oft aus Partnerschaften zwischen den Akteuren. In diesem Sinne lassen wir in einer Reihe von Interviews die Akteure des Gesundheitssystems zu Wort kommen.

Stefan Felder findet es irreführend, dass man in der Schweiz von einer Grundversicherung spricht: «Wir haben faktisch eine obligatorische Vollversicherung». Der Gesundheitsökonom der Universität Basel pocht auf klare Regeln und die Reduktion der Leistungen in der obligatorischen Krankenversicherung.
Stefan Felder (*1960) ist Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Basel und Direktor des Basel Center for Health Economics. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören der Wettbewerb und die Regulierung in der Krankenversicherung sowie die Priorisierung von medizinischen Leistungen.
Wie würden Sie den Leistungskatalog der Grundversicherung charakterisieren?

Von einer Grundversicherung zu sprechen, ist eigentlich irreführend. Schaut man sich den Leistungskatalog der OKP an, dann haben wir das Gegenteil einer Grundversicherung. Es ist eine Vollversicherung für alles und alle, wie es sie sonst nirgends auf der Welt gibt. Sie wurde 1994 vom Volk beschlossen und seither wächst ihr Deckungsumfang mit dem technischen Fortschritt in der Medizin und den steigenden Bedürfnissen der Versicherten. 97, 98 Prozent von dem, was medizinisch möglich ist, deckt die Grundversicherung ab.

Müsste man den Katalog einschränken?

Eine Begrenzung des Leistungskatalogs ist dringlich – aber davon will niemand etwas hören. Die Leistungserbringer sind heute frei, Neues auszuprobieren, ohne dass es dafür in der Regel eine Kostengutsprache braucht. Auf diese Weise entwickelt sich der Leistungskatalog dynamisch. Das Wachstum kommt weniger von der Preis- als von der Mengenentwicklung her.

Welche Rolle spielen die Zusatzversicherungen?

Der Bereich der Zusatzversicherung ist wenig dynamisch; er wird von der OKP ausgehungert, die laufend alles Neue aufnimmt. Der Anteil der Privatversicherung an der Finanzierung der Gesundheitsausgaben beträgt gerade noch 6.5 Prozent – Tendenz weiter sinkend. Der Zugang zum Chefarzt und einem Einbettzimmer im Spital bedeutet keine bessere medizinische Versorgung – man zahlt in der Zusatzversicherung vor allem für den höheren Komfort. Diese Entwicklung ist absurd. Es müsste doch umgekehrt sein: je reicher eine Gesellschaft, desto höher der Anteil der privaten Krankenversicherung an den Gesamtkosten der Gesundheitsversorgung.

Wir debattieren jeden Herbst über die steigenden Krankenkassenprämien. Den Rest des Jahres drängen viele Akteure, Politiker und Medien auf die Aufnahme neuer Leistungen in den Katalog der OKP.

Wer weiss schon, dass die Prämien unter Berücksichtigung der individuellen Prämienverbilligung nur rund 30 Prozent der Gesundheitsausgaben finanzieren? Politik und Verwaltung verteilen Wohltaten, Versicherer sind in ihren Möglichkeiten beschränkt und die Versicherten sind versichert. Die vielen «Kässeli» verwischen die Verantwortlichkeiten.

Das tönt resigniert.

Es ist realistisch. Wenn wir nach vorne schauen, dann wird das so weitergehen. Jedes Jahr kommen drei, vier Prozent zusätzliche Ausgaben hinzu. Das Grundproblem im Gesundheitswesen ist, dass die staatliche Verantwortung nicht geregelt ist. Wo hört die Verantwortung des Staates auf? Haben alle Anrecht auf eine «Präsidenten-Medizin», wie sie dem US-Präsidenten zukommt? Natürlich nicht: Es muss eine Grenze geben, an der die Verantwortlichkeit des Staates aufhört und die der Privatperson beginnt. Diese Diskussion ist unbequem und wird nicht geführt.

Der Leistungskatalog der OKP muss zurückgestutzt und ausgedünnt werden. Was dabei nicht hilft: Gärtchendenken.
Wie durchbricht man die Spirale?

Das Bundesgericht hat schon 2010 beklagt, dass die Politik die Kriterien zur Beurteilung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses von medizinischen Leistungen nicht festgelegt hat. Es braucht explizite Regeln, wie der Nutzen einer Therapie gemessen, wie er mit den Kosten verglichen und was die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft dafür ist. So wie das England und skandinavische Länder schon lange machen.

Wo stehen wir im Vergleich zu anderen Ländern?

Wir sind Spitze, vor allem beim Zugang zu medizinischen Leistungen. Die Dichte an niedergelassenen Ärzten, vor allem auch Spezialisten, ist sehr hoch. Anders als in den benachbarten Ländern gibt es kaum Wartezeiten für elektive Behandlungen. Aktuell gibt es einen Stau bei der Zulassung und Erstattung von teuren neuen Medikamenten. Es rächt sich, dass wir keine überzeugende gesetzliche Grundlage für die Nutzenmessung von medizinischen Leistungen haben.

Wenn Sie eine Änderung im Gesetz vornehmen dürften, welche wäre das?

Bald dreissig Jahren nach der Volksabstimmung über die OKP fehlt es an einer Ausführungsgesetzgebung zu den drei Kriterien Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit. Dort würde ich einen Passus reinschreiben, wie er im deutschen Gesetz steht: «Die Kosten-Nutzenbewertung erfolgt auf der Grundlage der in den jeweiligen Fachkreisen anerkannten internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin und der Gesundheitsökonomie.»

Die Grundlagen sind vorhanden, man muss sie bloss nutzen: Weshalb ist die Diskussion über Kosten und Nutzen von medizinischen Therapien verpönt?
Was ist Ihre Motivation, sich an der Debatte um die medizinischen Kosten zu beteiligen?

Meine Motivation liegt in einer simplen Erkenntnis: Wir können unser Gesundheitswesen besser und effizienter organisieren, ohne dass die Qualität darunter leidet. Viele Argumente in der Diskussion um die Gesundheitskosten sind Scheinargumente, um Macht und Pfründe zu sichern. Und da habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, die Mediziner zu ärgern.

Weshalb?

Weil sie in der Regel die Diskussion um klare Regeln nicht führen wollen. Man muss es schon deutlich sagen: Die Uniklinik Basel macht jährlich einen Umsatz von 1,3 Milliarden Franken – und wird geführt wie ein Verbund von Königreichen. Man hat die modernsten Apparate und gleichzeitig ein Management und Prozesse, die überhaupt nicht zeitgemäss sind. Die Folge davon: Alles ist wahnsinnig teuer.