Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln
15. Februar 20241) Ausgangslage
Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln sind ein globales Phänomen, welches auf verschiedene Ursachen zurückzuführen ist. Neben betriebswirtschaftlichen Gründen, wie die zunehmende Globalisierung, die Zentralisierung der Produktion oder die Etablierung von Lean Management führen weitere Probleme wie Produktionsunterbrüche und anhaltende Wirkstoffknappheit zur Verschärfung der bereits angespannten Lage. Diese Ursachen können nicht isoliert in der Schweiz angegangen werden und erfordern Zusammenarbeit und Koordination auf internationaler Ebene. In diesem Bereich haben die Versicherer keine Handlungsmöglichkeiten, weshalb sich die Lösungsansätze von curafutura auf die symptomatische Bekämpfung der Auswirkungen der Versorgungsengpässe in der Schweiz konzentrieren.
Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) stuft die Lage bei der Versorgung mit lebenswichtigen Arzneimitteln in der Schweiz seit Januar 2023 als problematisch ein. Während in der Vergangenheit oft die Spitäler mit Versorgungsengpässen zu kämpfen hatten, sind inzwischen zunehmend orale Formen von Arzneimitteln und damit der ambulante Bereich (Arztpraxen und Apotheken) betroffen[1]. Eine regelmässig aktualisierte Übersicht über die Situation in der Schweiz bieten die «Listen Versorgungsengpässe Arzneimittel/Impfstoffe» des BWL (vgl. Punkt 3.2). Die private Webseite drugshortage.ch informiert zudem über die aktuellen Lieferengpässe bei sämtlichen Arzneimitteln, auch jenen, welche keine Probleme verursachen.
2) Zuständigkeiten und Betroffenheit der Versicherer
Für die Krankenversicherer ist ein zuverlässiger Zugang der Versicherten zu Arzneimitteln von grosser Bedeutung. Die Nichtverfügbarkeit von wichtigen Arzneimitteln kann zur Beeinträchtigung der Gesundheit und Folgekosten führen. Gleichzeitig sind die Versicherer mit Forderungen wie Preiserhöhungen sowie Zusatzvergütungen von Seiten der Leistungserbringer konfrontiert.
Die Gewährleistung der Versorgung mit Arzneimitteln und die Vermeidung von dauerhaften Versorgungsengpässen verantwortet die Industrie zusammen mit den Kantonen und dem Bund. Die verschreibenden und abgebenden Leistungserbringer beraten die Patientinnen und Patienten im Falle einer vorübergehenden oder dauerhaften Nichtverfügbarkeit eines Präparates auf dem Schweizer Markt. Dazu gehören die Empfehlung eines Substitutionspräparates (andere Packungsgrösse, andere Dosierung, Generikum/Biosimilar/anderer Wirkstoff) oder auch eine Einnahmeberatung bei alternativen Darreichungsformen.
3) Problemfelder und Lösungsansätze
Die Gründe für Versorgungsengpässe in der Schweiz sind vielschichtig. Dementsprechend komplex gestalten sich mögliche Lösungsansätze. Diese liegen in der Verantwortung von verschiedenen Akteuren und können nur dann ihre Wirkung zeigen, wenn alle Akteure die Verantwortung für ihre Funktion im Versorgungssystem übernehmen. In diesem Sinne spricht sich curafutura für die Einhaltung der klar definierten Zuständigkeiten aus.
3.1 Schärfung der Definition, Abgrenzung der Begriffe
Problembeschreibung
Die Begriffe «Versorgungsengpass», «Versorgungsslücke», «Lieferengpass» und «Angebotslücke» werden oft vermischt und teilweise fälschlicherweise synonym verwendet. Eine klare Definition und einheitliche Anwendung fehlt. Für curafutura ist wichtig, dass zwischen Lieferengpässen und Versorgungsengpässen unterschieden wird:
- «Lieferengpass» im Sinne einer temporären Nichtverfügbarkeit eines Arzneimittels; und
- «Versorgungsengpass» bei andauernder Nichtverfügbarkeit und Fehlen einer Therapiealternative.
Lösungsansätze
- Vereinheitlichung der Definiton «Versorgungsengpass». Nach Art. 1 der «Verordnung über die Meldestelle für lebenswichtige Humanarzneimittel» gelten von Swissmedic zugelassene Arzneimittel als lebenswichtig, wenn sie nicht oder nur eingeschränkt ersetzbar sind und deren Fehlen über längere Zeit gravierende gesundheitliche Folgen hätte. Nach dieser Definition stellen die auf der Liste des BWL aufgeführten Wirkstoffe «echte» Versorgungsengpässe dar.
- Bessere Koordination bei der Verwendung der unterschiedlichen Begriffe und Vermeidung von abweichenden Bezeichnungen wie z. B. «Angebotslücken», welche in der ALT per 1. Mai 2023 geregelt wurden.
Haltung curafutura
Aus Versorgungssicht kritisch sind insbesondere «echte» Versorgungsengpässe im Sinne einer andauernden Nichtverfügbarkeit von wichtigen Arzneimitteln und gleichzeitigem Fehlen einer Therapiealternative. curafutura spricht sich für eine differenzierte Betrachtung der Versorgunglage aus und setzt sich konsequent für die Schärfung der Definition und einheitliche Verwendung der Begriffe ein.
3.2 Vorübergehende und dauerhafte Nichtverfügbarkeit von wichtigen Arzneimitteln
Problembeschreibung
Die Auswirkungen der Versorgungsengpässe sind am Ende der Lieferkette in den Apotheken, Spitälern, bei den Ärzten und schliesslich bei Patientinnen und Patienten spürbar. Fehlen aus Versorgungssicht wichtige Arzneimittel, können die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken gravierend sein. Die verschiedenen zuständigen Stellen sind angehalten, die Verantwortung für ihren Bereich zu übernehmen.
Bereits umgesetzte Massnahmen
- Erfassung von Versorgungsengpässen bei meldepflichtigen, lebenswichtigen Wirkstoffen durch die Meldestelle des BWL seit Sommer 2015 (Meldepflicht der Zulassungsinhaberinnen).
- Führen des nationalen Pflichtlagers für Heilmittel durch das BWL mit Bedarfsdeckung von 2-6 Monaten. Dieses wurde bspw. im 2022 150-mal beansprucht[2].
- Gründung einer interdisziplinär besetzten Arbeitsgruppe (BAG) und der «Taskforce Engpass Medikamente» (BWL) anfangs 2023. Definition von mehreren Sofortmassnahmen durch die Taskforce des BWL im März 2023, darunter die Abgabe von Teilmengen einer Medikamentenpackung.
Lösungsansätze
- Evidenzbasierte Versorgung gemäss medizinischen Guidelines führt u.a. zur Reduktion der Medikamentenverschwendung (Waste).
- Maschinelle Verblisterung fördert einen sparsamen Umgang mit Medikamenten und unterstützt damit ebenfalls die Reduktion von Waste.
- Konsequente Wirkstoffverschreibung (anstelle von Produktname).
- Stärkung von Parallelimporten und verbesserte Koordination bei Arzneimittelimporten aus dem EWR.
- Lockerung des Territorialitätsprinzips und Vergütung von im Ausland gekauften Arzneimitteln.
- Die Selbstherstellung bei Mangellage soll aus Effizienz- und Qualitätsgründen möglichst zentral bei spezialisierten Anbietern erfolgen.
Haltung curafutura
Medikamente müssen evidenzbasiert und patientenoptimiert eingesetzt werden, um Verschwendung zu begrenzen. Der Import und die Vergütung von Arzneimitteln aus dem Ausland sowie die effiziente Selbstherstellung bei Mangellage sollen gestärkt werden.
3.3 Marktzugang und Zulassung
Problembeschreibung
Der Schweizer Markt ist im internationalen Kontext klein und weist zudem hohe Markteintrittshürden auf. Der Anteil abgegebener Nachahmerpräparate im patentabgelaufenen Bereich ist im internationalen Vergleich tief. Damit fehlt auch die Ausweichmöglichkeit auf Alternativen bei Nichtverfügbarkeit von bestimmten Präparaten.
Lösungsansätze
Der Markt für Nachahmerpräparate muss attraktiver werden. Dafür soll deren Marktpotenzial bestmöglich ausgenutzt werden. Entweder muss der Anteil von Nachahmerprodukten im patentabgelaufenen Bereich vergrössert (Aufwand pro Packung sinkt) oder der Aufwand reduziert (Ertrag pro Packung steigt) werden. Die möglichen Lösungsansätze in diesem Bereich sollen dazu beitragen, die vorhandenen Marktzugangshürden zu reduzieren:
- Abbau von Zugangshürden insbesondere bei bereits von der EMA/FDA zugelassenen Präparaten.
- Bei Generika und Arzneimitteln mit bekanntem Wirkstoff (BWS) ist die Wirksamkeit durch das Original gegeben. Eine Vereinfachung bei der Beurteilung der Zweckmässigkeit bspw. durch Zulassung der vom Original abweichenden Packungsgrössen, Dosierungen, Darreichungsformen, Indikationen etc. ist angezeigt.
- Digitalisierung der Beipackzettel oder nur einsprachig mit QR-Link.
- Begründete und gerechtfertigte Preiserhöhungen bei tiefpreisigen Arzneimitteln auf Antrag bei Wirkstoffklassen, die dauerhaft von Versorgungsengpässen betroffen sind.
- Beseitigung von Fehlanreizen bei der Medikamentenabgabe, bspw. durch eine Vereinheitlichung der gesetzlich geregelten Vertriebsmarge.
- Ausweitung des SL-Antragsrechts auf Versicherer und weitere Stakeholder bei Nichtgewährleistung der Versorgungssicherheit.
Haltung curafutura
Wo immer möglich sollen kostengünstige Alternativen wie Nachahmerprodukte oder andere gleichwertige Therapien zum Einsatz kommen. Der Anteil von Generika und Biosimilars als kostengünstige Alternative muss erhöht werden. curafutura setzt sich für Massnahmen ein, welche den Einsatz von Generika und Biosimilars unterstützen und Markteintrittshürden reduzieren.
4) Zusammenfassung und Position von curafutura
Für die curafutura-Mitglieder ist eine optimale Versorgung ihrer Versicherten mit Arzneimitteln von grosser Bedeutung. Nicht jedes Fehlen eines Arzneimittels ist aber aus Versorgungssicht kritisch. Ein «echter» Versorgungsengpass besteht dann, wenn ein wichtiges Arzneimittel dauerhaft nicht vorhanden ist und gleichzeitig eine zufriedenstellende Therapiealternative fehlt.
Generell soll der Medikamenteneinsatz wo möglich durch kostengünstige Alternativen wie Nachahmerprodukte und gleichwertige Therapien erfolgen. Eine Reduktion der Markteintrittshürden macht den Schweizer Markt attraktiver für Generika und Biosimilars, deren Anteil deutlich erhöht werden muss. Neben der differenzierten und einheitlichen Verwendung der Begriffe spricht sich curafutura für Massnahmen aus, welche evidenzbasierte Behandlungen gemäss medizinischen Guidelines fördern und damit helfen die Medikamentenverschwendung zu reduzieren.
curafutura setzt sich in ihrem Verantwortungsbereich für Rahmenbedingungen ein, welche eine sichere, evidenzbasierte und nachhaltig finanzierbare Versorgung mit Arzneimitteln begünstigen.
[1] https://www.bwl.admin.ch/bwl/de/home/themen/heilmittel/arzneimittel-aktuelle-lage.html
[2] https://www.bwl.admin.ch/bwl/de/home/themen/heilmittel/arzneimittel-aktuelle-lage.html