Mario Morger: «Sicher ist das Schweizer Gesundheitssystem teuer, ob es auch gut ist, wissen wir nicht so genau»

Bern/ , 27. Januar 2022
Dr. Mario Morger ist Ökonom, Mitglied der Geschäftsleitung und leitet das Ressort Tarife bei curafutura. Er ist Mitglied der Eidgenössischen Qualitätskommission.

Mario Morger fordert Transparenz in der Medizin. Nur so könne der Wettbewerb spielen und die Qualität des Schweizer Gesundheitswesens verbessert werden, sagt der Leiter Tarife der curafutura.

Was ist Ihre Definition von Qualität?
Qualität ist für mich, wenn ein Patient, der eine Erkrankung hat, die für seine spezifische Situation optimale Behandlung erhält. Das beginnt bei der Diagnose und führt zu den richtigen Folgeentscheiden mit dem bestmöglichen Ergebnis für die Patientinnen und Patienten.

Wir sind sehr stolz auf unser Gesundheitssystem. Zurecht?
Es gibt zwei Aussagen über das Schweizer Gesundheitssystem, die man immer wieder hört: Es ist eines der teuersten und eines der besten Systeme der Welt. Der erste Punkt stimmt, was jedoch die Qualität betrifft, können wir keine gesicherte Aussage treffen. Dafür fehlt uns die Transparenz, es fehlen uns heute die Instrumente und Mittel, die Qualität zu erheben. Da liegt viel Potenzial brach. Wissenschaftliche Studien kommen zum Schluss, dass 20 Prozent der Leistungen im System keinen Nutzen haben, so genannter «waste» sind.

Was heisst das?
Es werden Leistungen erbracht, die dem Patienten nichts helfen oder zum Teil sogar schädlich sind. Ein Beispiel, das dies eindrücklich illustriert, sind Kniearthroskopien. Im Kanton Schwyz werden etwa siebenmal so viele dieser Eingriffe durchgeführt wie im Unterwallis. Dieser Unterschied ist medizinisch nicht zu erklären, auch nicht wenn man die Demographie heranzieht. Mit anderen Worten: Entweder gibt es zu viele Arthroskopien in Schwyz oder zu wenige im Unterwallis, aber die Indikationsqualität kann nicht gleichzeitig an beiden Orten optimal sein.

Neulich hat der «Tages-Anzeiger» getitelt: «Operation Sparen bei unnötigen Therapien – missglückt».
Da müssen wir ansetzen, wir müssen Transparenz schaffen. Es gibt Leistungserbringer, die die Qualität in den Fokus rücken. Es gibt zum Beispiel verschiedene Ärztenetzwerke, die sehr innovativ unterwegs sind und im Kleinen aufzeigen, was möglich ist. Auf der anderen Seite gibt es eine riesige Blackbox: Von den meisten Leistungserbringern wissen wir nicht oder zu wenig genau, ob sie gute Leistungen erbringen.

Im Gesundheitssystem ist viel von Kosten die Rede. Stehen Kostendruck und Qualität nicht in Konkurrenz zueinander?
Leistungen, die in guter Qualität erbracht werden, wirken kostendämpfend. Etwa bei Operationen. Bei guter Qualität haben wir weniger Komplikationen, weniger Rehospitalisationen, weniger Folgeleiden, weniger Physiotherapie-Leistungen, korrektere Medikation. Wir sehen da keinen Zielkonflikt, im Gegenteil: Eine gute Qualität nutzt dem einzelnen Patienten ebenso wie dem gesamten System.

 

Was für das Wasserglas gilt, gilt auch für das Gesundheitswesen: Ohne Transparenz kein Durchblick

Was braucht es für eine gute Qualität?
In erster Linie Transparenz. Wir brauchen transparente Qualitätsindikatoren auf allen Stufen der Leistungserbringer. Die lassen Rückschlüsse auf die Qualität der Behandlungen zu und erlauben es den Leistungserbringern zudem, sich untereinander zu vergleichen. Mit der Transparenz kommen wir automatisch in einen Konkurrenz- und Verbesserungsprozess. Auf der anderen Seite besteht bei den Patienten ein grosses Bedürfnis, sich informieren zu können, in welcher Klinik oder bei welchem Arzt sie welchen Eingriff machen wollen.

Kann man von Patienten erwarten, dass sie diese Verantwortung übernehmen?
Auf jeden Fall. Das Gesundheitswesen muss darauf ausgelegt sein, dass die Patienten mündig sind. Ebenso wie wir im politischen System davon ausgehen, dass die Bürgerinnen und Bürger mündig sind. Jeder Konsument macht seine Ferien- und Hotelbuchungen anhand von Bewertungen, kauft technische Geräte entsprechend. Dort aber, wo es um das Wichtigste überhaupt geht, nämlich die Gesundheit, sollte das nicht gehen? Das sehe ich nicht so. Die Frage ist nicht ob, sondern wie man diese Informationen zugänglich macht.

Welche Werkzeuge geben Sie den Patienten dafür?
In erster Linie braucht es Informationen, die Patientinnen und Patienten verstehen und nachvollziehen können. Man darf nicht einfach sagen, die verstehen es eh nicht. Da muss man die entsprechende Unterstützung bieten. Da wären wir wieder bei der Digitalisierung, die uns Werkzeuge zur Verfügung stellt oder Werkzeuge möglich macht, um diesen Kompass zu bieten.

Welche Rolle spielt curafutura in dieser Diskussion?
Unsere Rolle ist vom Gesetz gegeben: Wir arbeiten mit den Leistungserbringern nationale Qualitätsverträge aus und legen damit das Fundament für die Qualitätsentwicklung.

Wie sorgt man dafür?
Innerhalb des gesetzlichen Rahmens möchten wir vor allem gute Bedingungen und einen Anreiz schaffen, damit die Leistungserbringer die Qualitätsentwicklung von sich aus angehen. Was uns am Ende interessiert, sind gute Ergebnisses für die Patientinnen und Patienten, die wir als sog. Outcome messen. Man muss aber aufpassen, dass man unter dem herrschenden Druck des Gesetzgebers nicht in einen Aktivismus verfällt. Man muss umsichtig sein und darf in der aktuellen Kostendiskussion nicht zu stark regulieren. Innovation kann nur dort entstehen, wo es einen gewissen Freiraum gibt, um die Qualität zu entwickeln.

curafutura ist der Verband der innovativen Krankenversicherer. Was heisst Innovation in Bezug auf die Qualität der Medizin?
Für uns heisst Innovation in erster Linie, dass wir mit dem medizinischen Fortschritt Schritt halten. Wenn neue Behandlungsmethoden auf den Markt kommen, suchen wir mit den Tarifpartnern Lösungen, um gemeinsam vorwärts zu kommen. In der Praxis ist das nicht immer so einfach, wir bewegen uns in einem doch sehr starren gesetzlichen Rahmen. Dieser darf weder Leistungserbringer noch die Krankenversicherer zu stark einzuschränken. Denn gerade im Bereich der Qualität öffnen sich laufend neue Opportunitäten.

Zum Beispiel?
Es gibt gewisse Leistungserbringer-Gruppierungen, die innovativer unterwegs sind als andere. Die in der Digitalisierung Möglichkeiten und Chancen sehen, die Qualität voranzutreiben.

Die Rolle von curafutura in der Qualitätsdiskussion: Beobachten und überprüfen ohne den Weitblick zu verlieren.

Stichwort Digitalisierung: Was kann sie zur Qualität beitragen?
Die Digitalisierung birgt ein grosses Potenzial. In der Medizin allgemein und für die Qualität der Medizin im Speziellen. Denn am Anfang der Qualität steht die Transparenz und die können wir herstellen, wenn wir entsprechende Daten erfassen, auswerten und vergleichen können. Nehmen wir das leidige Beispiel des elektronischen Patientendossiers, um das Potenzial sichtbar zu machen. Würde man das endlich richtig umsetzen, käme das einem Digitalisierungsschub gleich. Die verschiedenen Leistungserbringer wären vernetzt, viel weniger Informationen gingen verloren. Man hätte gleichzeitig einen unmittelbaren Nutzen im Alltag und eine Datenbasis, um die Qualität zu monitoren und weiterzuentwickeln.

Was heisst das für Patientinnen und Patienten konkret?
Nehmen wir an, jemand ist bei verschiedenen Ärzten in Behandlung. Einem Hausarzt, einer Spezialistin, unter Umständen mit einem Aufenthalt in einem Spital. Alle drei verschreiben Medikamente – und es kann gut sein, dass niemand die Übersicht hat, welche Medikamente der Patient einnimmt. Das ist nicht nur ineffizient sondern auch gefährlich, weil Komplikationen auftreten können, die wiederum Kosten verursachen. Das Patientendossier würde also die Qualität verbessern und dazu beitragen, Kosten einzusparen.

Tönt eigentlich simpel.
Im Prinzip schon, aber es ist bis heute leider nicht gegeben.

Die Medizin ist selber sehr innovativ. Dagegen ist die Tarifwelt und der Gesetzgeber träge. Wie bewegt man sich in diesem Spannungsfeld?
Wir sind mitten drin in diesem Spannungsfeld. Natürlich bekommen wir das zu spüren. Der neue Arzttarif, der Tardoc, ist hier das beste Beispiel. Ein neuer, dynamischer Tarif ist absolut zentral, denn Tarifentwicklung hat sehr viel mit Qualität zu tun. Er räumt Fehlanreize aus und erstattet die nötigen Leistungen korrekt und fair.