Pius Zängerle: „Der Tardoc ist die schwierigste Aufgabe, an der ich je gearbeitet habe.“

Bern/ , 18. März 2021

Der Direktor von curafutura Pius Zängerle will endlich den Tardoc einführen. Für den Direktor von curafutura ist der neue Tarif unausweichlich – sonst würden mit dem komplett veralteten Tarmed weiterhin jedes Jahr 12 Milliarden Prämiengelder ineffizient eingesetzt.

Der Tardoc ist umfangreich, detailliert, technisch. Wenn Sie den neuen Tarif in einem Satz zusammenfassen…
… dann bildet er die heute aktuelle Medizin ab, damit gute Leistungen in Zukunft fair bezahlt werden können, wovon in letzter Konsequenz auch die Patientinnen und Patienten profitieren.

Wie viel am Tardoc ist Innovation, wie viel Pflicht?
Ich schätze 30 Prozent Innovation, 70 Prozent Pflicht. Wir stehen in erster Linie in der Pflicht, für die jährlich 12 Milliarden Franken an Prämiengeldern, die in den ambulanten Bereich fliessen, einen klugen Tarif zur Verfügung zu stellen. Damit lassen sich viele Probleme lösen.

Nämlich?
Der Tardoc macht unser Gesundheitssystem zukunftsfähig. Bei der Arbeit haben wir die Zukunft stets im Auge behalten: Es gibt eine Roadmap, wie der Tarif weiterentwickelt wird und wir haben – das ist das Allerwichtigste – eine handlungsfähige Organisation hinter dem Tarif.

Im Gegensatz zum Tarmed.
Genau. Der Tardoc kann weder sich selber aufhängen noch sich in eine Sackgasse manövrieren. Ist beim Tarmed für eine Veränderung Einstimmigkeit gefordert – die es nicht gibt, nicht geben kann und in zwanzig Jahren nie gegeben hat – reicht beim Tardoc eine Mehrheit, um den Tarif anzupassen. Dadurch wird nicht das ganze System blockiert, wie das in den letzten 17 Jahren der Fall war.

In der Medizin werden Unmengen an Daten erhoben. Liessen sich damit nicht die effektiven Kosten laufend abbilden mit Echtzeit-Daten?
Doch, aber das wäre nicht klug. Ein Tarif ist eine Verständigung zwischen dem, der eine Leistung erbringt und dem, der dafür bezahlen muss. Sie benötigt eine gewisse Stabilität und Sicherheit. Mit dem Tardoc haben wir einen verhandelten, akzeptierten Tarif. Das ist der Unterschied zu einem wissenschaftlichen Tarif: Der wäre vielleicht perfekt, würde aber nicht akzeptiert.

Kann man so schnell genug auf Veränderungen reagieren?
Hinter dem Tardoc steht eine Organisation, die Willens ist, Daten zu erheben, zu überprüfen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Es gibt Bereiche, die mehr oder weniger stabil bleiben. Das Gespräch am Anfang einer Patienten-Arzt-Beziehung etwa. Aber die Technik, die der Arzt anwendet, die entwickelt sich und hier müssen wir den Tarif ebenfalls entwickeln können.

Kann man so schnell genug auf Veränderungen reagieren?
Hinter dem Tardoc steht eine Organisation, die Willens ist, Daten zu erheben, zu überprüfen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Es gibt Bereiche, die mehr oder weniger stabil bleiben. Das Gespräch am Anfang einer Patienten-Arzt-Beziehung etwa. Aber die Technik, die der Arzt anwendet, die entwickelt sich und hier müssen wir den Tarif ebenfalls entwickeln können.

Ein medizinischer Tarif hat mehr mit Kunst zu tun als Sie denken.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Der Augenlaser. Vor zwanzig Jahren war das ein Eingriff, von dem man an einem Tag nur einige wenige durchführen konnte. Heute kann man beinahe von einem Fliessband-Eingriff reden. Es gelten also ganz andere Rahmenbedingungen, entsprechend muss das ganz anders tarifiert werden.

Sie arbeiten seit mehr als sechs Jahren am Tardoc. Was hat Sie am meisten überrascht?
Die Breite dieser Disziplin «Arzt» ist eindrücklich und überraschend, ja, überwältigend. Hinzu kommt die ausgeprägte Spezialisierung in der Medizin. Auf der anderen Seite steht der Mensch, ebenfalls sehr komplex. Beide Seiten müssen im Tarif abgebildet sein. Das heisst: Wenn man dem Patienten sowie dem Arzt und seiner Tätigkeit gerecht werden will, ist das per se komplex.

Was ist Ihr Antrieb, an diesem komplexen System zu arbeiten?
Das habe ich mir manchmal auch überlegt, wenn ich nachts wach im Bett gelegen bin.

Sie hatten schlaflose Nächte?
Ja. Es ist mit Abstand die schwierigste Aufgabe, an der ich je gearbeitet habe. Der Durchgangsbahnhof Luzern war «mein» Projekt, eine schwierige Geschichte, auf deren Erfolg ich mir stets einiges eingebildet habe. Aber gegenüber dem Tardoc, nun, ist es ein Nasenwasser.

Weshalb?
Es geht nicht nur um Inhalte, es geht auch um Menschen, Verbände, Politik, Interessen, um alles, was man sich an zusätzlicher Komplexität denken kann. Und während all dieser Zeit, trotz jahrelanger Arbeit, fehlte die Gewissheit, dass der Tardoc ein erfolgreiches Projekt wird.

Sie haben nochmals die Komplexität dargelegt. Was treibt Sie an?
Innovation ist schön, wenn man jedoch keine Ergebnisse vorweisen kann, dann ist Innovation bloss ein schönes Wort. Einen Tarif zu erfinden, ist einfach. Die Kunst ist es, diesen gemeinsam mit den Ärzten auszuarbeiten und zu verhandeln, um schliesslich ein Ergebnis zu erzielen.

Was war der grösste Rückschlag?
Der Ausstieg der Spitäler. Alles war fertig verhandelt, 2700 Positionen, der Spitalverband H+ hatte der Leistungsstruktur zugestimmt und dann seine Meinung geändert. Sie hatten sich wohl mehr erhofft, ein besseres Ergebnis, um den ambulanten Spitalbereich profitabel zu machen.

Das zeigt: Der ganze Prozess war und ist langwierig, manchmal zermürbend…
… das stimmt schon. Darin liegt aber auch die Befriedung. Bei allen Schwierigkeiten und Rückschlägen geht es trotzdem vorwärts. Wir haben eine Chance, das zu schaffen!

Apropos Chance: Sie haben den 1.1.2022 als Ziel für die Einführung des Tardoc ausgegeben. Wie stehen die Chancen?
Gegenfrage: Was ist die Alternative? Das ist vergleichbar mit einer Bergtour. Wenn man einmal in dieser Wand hängt, gibt es nicht mehr viele Möglichkeiten, man kann sich abseilen oder weiterklettern. An solchen Punkten geht es darum, auf das Ziel zu fokussieren und alles daran zu setzen, dass es vorwärtsgeht.

Der Tardoc liegt momentan nicht in Ihren Händen. Das dürfte Ihnen nicht behagen?
Das kann ich so nicht bestätigen. Diese Aufgabe ist keine One Man-Show. Es braucht ganz viele Leute, die gemeinsam wollen und machen. Klar braucht es gewisse Impulse, und hier sind wir klar in der aktiven Rolle, aber letztlich geht es nur, wenn eine breite – wenn vielleicht auch nur knurrende – Akzeptanz vorhanden ist. Das ist die Kunst des politischen Engagements. Hinzubringen, dass aus dieser Idee etwas wird, das jemand anderer beschliesst.

Etwas mehrheitsfähig zu machen?
Was heisst das schon. Auch wenn heute noch viele darüber wäffeln, drei Monate später ist eine Sache schon «mehrheitsfähig». Weil beschlossen.

Bitte merken Sie sich: DOC statt MED bedeutet (auch), dass in Zukunft jährlich 12 Milliarden Franken Prämiengelder effizient und wirtschaftlich eingesetzt werden! Es ist Zeit für den TarDOC.

Und doch ist der Tardoc ein stetes Ringen um Mehrheiten?
Wir sind mehrmals haarscharf am Scheitern vorbeigeschrammt. Immer wieder brauchte es grosse Zugeständnisse, die man seiner eigenen Seite oder der Gegenpartei abringen musste.

Das Gesundheitswesen ist geprägt von Regeln und Reglementierungen. Wo finden Sie den Freiraum, um Ihre Ideen einzubringen?
Innovtion findet dort statt, wo man das erschafft, das es heute noch nicht gibt. Der Tardoc ist ein Abbild der gelebten Wirklichkeit in Praxis und Spital. Das ist eine kreative Arbeit. Man glaubt es vielleicht nicht, aber ich sehe mich als kreativen Menschen.

Weshalb traut man Ihnen Kreatvivität nicht zu?
Tarifierung ist doch etwas Graues. Entsprechend grau und langweilig muss der Zängerle sein, überall Vierecke, Checklisten… Aber ich bin jemand, der nach jenen Lösungen sucht, die akzeptiert werden. Und uns effektiv in der Materie weiterbringen

Der Tarmed zählt 4500 Positionen, der Tardoc gut die Hälfte. Ist das präzise genug, um die Realität abzubilden
Als Mathematiker haben mich im Studium die Fraktale sehr interessiert, oder auch halbe nsionen. Eine populäre Frage ist: Wie lange ist die Küste von England? Je nachdem, wie man sie misst, ist sie Millionen von Kilometern lang. Es stellt sich also die Frage nach dem Massstab, nach der geeigneten Abbildung. Bei einem Tarif ist das nicht andes: Er ist ein Modell der Wirklichkeit, er ist nicht die Wirklichkeit. Jetzt kann man da sehr akribisch vorgehen, immer genauer und noch genauer – bis man in Detaillierung und Administration erstickt.

Gilt der Umkehrschluss?
Könnte sein. Oder auch nicht. Es ist kein Ziel für sich, 1000 Positionen aufzulisten. Oder 5000. Oder nur 500. Es braucht einen Tarif, der geeignet ist, die gelebte Realität möglichst ohne Ungleichgewichte abzubilden.

Möglichst ohne oder ohne Ungleichgewichte?
Es ird immer Ungleichgewichte geben, aber sie dürfen nicht zu gross sein. Sonst gibt es Fehlanreize.

Den Weg zum Tardoc, wie Sie ihn zeichnen, ist ein pragmatischer Weg.
Pragmatismus und Innovation ergänzen sich. Eine funktionierende Tariforganisation und eine Tarifstruktur sind zwar schnell gedacht, aber erst sie umzusetzen, bedeutet Innovation.

Wie zeigte sich der Pragmatismus?
Wir sagen Ja, solange das Ziel nicht geopfert werden muss und man Fortschritte im Hinblick auf dieses Ziel macht.

Dann ist der Tardoc ein einziger Kompromiss?
Die perfekte Lösung gibt es nicht. Da ist eben auch ein gewisser Pragmatismus gefragt. Wir haben heute einen Tarif, der seit zwanzig Jahren unverändert ist und der sich nie mehr verändern wird. Der Tarmed war zu Beginn top, nach fünf Jahren veraltet, nach zehn Jahren ein Ärgernis, nach zwanzig Jahren ist er eine Katastrophe. Der Tardoc bedeutet eine gewaltige Verbesserung – es ist an der Zeit, ihn einzuführen.