Felix Huber: «Unkoordinierte Medizin hat gesundheitliche und finanzielle Nachteile»

Bern/ , 23. Februar 2023

Kooperation ist einer der Grundwerte von curafutura: gute Lösungen enstehen oft aus Partnerschaften zwischen den Akteuren. In diesem Sinne lassen wir in einer Reihe von Interviews die Akteure des Gesundheitssystems zu Wort kommen.

Felix Huber ist ein Pionier der integrierten Versorgung – und ein grosser Fan unseres Gesundheitswesen. Was dieses braucht, um gesund zu bleiben? Geduld statt Reformeifer, sagt der Hausarzt. Dann würden sich gute und effiziente Modelle von selbst durchsetzen.
Der Allgemeinmediziner hat 1998 den Grundstein für das Medix Netzwerk gelegt, dem heute zehn regionale Ärztenetze mit mehr als 700 Hausärztinnen und Hausärzten angehören.
Herr Huber, Sie haben Ende der 90er-Jahre mit dem ersten Praxisnetzwerk die integrierte Versorgung angestossen:  Was hat Sie dazu bewogen?

Im Vordergrund stand die Erkenntnis, dass eine hausärztlich koordinierte medizinische Versorgung zu einer besseren Behandlungsqualität führt. Zudem haben wir Ärztinnen und Ärzte eine Verantwortung für den sorgfältigen Einsatz der Ressourcen und für eine langfristige Finanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems. Mit einer hausärztlich koordinierten Versorgung können wir bis zu 20 Prozent der Kosten einsparen.

Und damit auch das Gesundheitswesen günstiger zu machen?

Für die Patienten, die das wollen. Wenn wir uns auf Behandlungen konzentrieren, die wirklich einen Nutzen bringen, können wir viel einsparen. Mit den modellversicherten Patienten einigen wir uns auf diese Strategie und lassen alles weg, wofür es keine Evidenz gibt. Das heisst: Integrierte Modelle machen die Medizin effizienter und führen gleichzeitig zu bessern Behandlungsresultaten. Aber die Effizienz zu erhöhen, ist aufwändig und anstrengend – für alle Player. Das kann nur freiwillig geschehen.

„Volkswirtschaftlich sind die guten Hausarztnetze mit Verträgen mit Versicherern die einzigen Modelle, mit denen substantiell Kosten eingespart werden können.“
Welche Vorteile bringt die koordinierte Versorgung mit sich?

Patientinnen und Patienten können sich einen persönlichen Hausarzt und damit auch eine kontinuierliche Arzt-Patienten-Beziehung sichern. Auf dem Land ist das schon heute nur noch in solchen Modellen möglich. Bald wird es in der ganzen Schweiz den Zugang zu guten Hausärzten nur noch über die koordinierte Versorgung geben. Volkswirtschaftlich sind die guten Hausarztnetze mit Verträgen mit Versicherern die einzigen Modelle, mit denen substantiell Kosten eingespart werden können.

Steht das nicht dem Trend der Spezialisierung entgegen?

Im Gegenteil. Je spezialisierter und fragmentierter die medizinischen Behandlungen werden, desto mehr braucht es eine Hausärztin, die begleitet und gemeinsam mit Patienten den richtigen Behandlungspfad wählt. Der Hausarzt führt das medizinische Dossier mit Medikationskarte, Diagnoseliste, relevanten Berichten et cetera.

Der Patient braucht Ruhe: Die Frequenz, mit der im Gesundheitswesen Veränderungen und Anpassungen vorgenommen werden, ist zu hoch – und ungesund.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Netzwerke?

Wir erleben bei den alternativen Versicherungsmodellen einen Boom. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung hat ein solches Modell gewählt. Die richtige kontinuierliche Betreuung von kranken Menschen können allerdings nur Ärztinnen und Ärzte in einem Netzwerk gewährleisten, das mit den Versicherungen Verträge abgeschlossen hat. Davon profitiert heute etwa ein Viertel der Bevölkerung. Die restlichen 50 Prozent gehören einem telemedizinischen Modell an, das in Bagatellfällen beraten kann. Oder in einem von den Kassen einseitig ausgerufenen Listenmodellen, das nichts mit koordinierter Betreuung zu tun hat.

„Das ist eine Stärke unseres Systems: Es gibt eine grosse Freiheit. Zu der muss man Sorge tragen.“
Wie funktioniert die Zusammenarbeit in den Netzwerken?

Wir haben seit vielen Jahren eine exzellente Zusammenarbeit mit vielen grossen Kassen, mit denen wir vertraglich die kontinuierliche Betreuung der Patienten im Hausarztmodell regeln, Qualitätsstandards und Vergütungsregeln vereinbart haben. Das ist grossartig und beruht auf der dreifachen Freiwilligkeit der PatientInnen, der ÄrztInnen und der Versicherer. Das ist eine Stärke unseres Systems: Es gibt eine grosse Freiheit. Zu der muss man Sorge tragen. Es gibt aber immer noch Versicherungen, die das Potenzial der hausärztlich koordinierten Versorgung nicht erkannt haben.

Im Gesundheitswesen ist der Veränderungsdruck gross. Ist dadurch diese Freiheit in Gefahr?

Eingriffe sind extrem heikel, wenn sie regulieren oder Mengengerüste festlegen wollen. Ich stelle mich dem nicht grundsätzlich entgegen, aber man muss sehr aufpassen. Der Bund und die Kantone übertreffen sich in Verordnungen, die weit über das Ziel hinausschiessen. Politikerinnen und Politiker haben per se den Auftrag, etwas zu machen. Tatsächlich habe ich manchmal das Gefühl, sie würden besser nichts machen. In einem so grossen, komplexen System braucht es manchmal einfach Geduld.

Vieles regelt sich selber?

Sehen Sie: Bei den guten Hausärztinnen und -ärzten wird es nur noch Platz für Patienten mit dem richtigen Versicherungsmodell geben. Schon heute sind praktisch alle Hausarztpraxen überfüllt. Patientinnen und Patienten werden merken, dass sie irgendwann einen Hausarzt brauchen. Dann werden sie in das richtige Versicherungsmodell wechseln.

Das System reagiert sensibel: Kleine Massnahmen haben grosse Wirkungen. Wie die integrierte Versorgung, deren Basis ein einziger Satz im Gesetz ist.
Ein oft genanntes Stichwort bei der koordinierten Versorgung ist die Interprofessionalität.

Das BAG hat runde Tische für die integrierte Versorgung verlangt. Spitex, Ärzte, Apotheker und so weiter sollen zusammen eine Lösung erarbeiten. Ich kann Ihnen sagen: Da wird genau gar nichts herausschauen. Denn alle Akteure setzen sich einzig für ihre Interessen ein und wollen einen Teil des Kuchens, einen möglichst grossen Teil.

Was tun?

Fakt ist: Es können nicht alle steuern. Steuern soll derjenige, der die grösste Generalistenerfahrung hat. Und das ist nun mal der Hausarzt. Er hat eine umfassende Sicht der Dinge. Ich verstehe die Angst, übergangen zu werden. Wir sollten gescheiter Kooperationsvereinbarungen zwischen verschiedenen Leistungserbringern ausarbeiten, statt unsere Zeit an runden Tischen verschwenden.

„Es sind viele Eingriffe ins System geplant, deren Auswirkungen man nicht kennt – und das dünkt mich gefährlich.“
Was motiviert Sie, sich für ein gutes Gesundheitswesen einzusetzen?

​​Insgesamt haben wir eine hervorragende Versorgung in der Schweiz und einen fantastischen Freiheitsgrad der Akteure. Das ist einzigartig. Das ist es, was mich antreibt: Wir haben ein tolles, kostbares, aber teures System, bei dem man aufpassen muss, dass man es nicht zerstört. Es sind viele Eingriffe ins System geplant, deren Auswirkungen man nicht kennt – und das dünkt mich gefährlich.

Wie sieht für Sie das ideale Gesundheitswesen aus?

Wir müssen uns alle anstrengen, dass wir die Ressourcen sehr sorgfältig einsetzen. Die Verschwendung wegzulassen, ist sehr anspruchsvoll und ich bin überzeugt, dass der Hausarzt dabei die zentrale Rolle spielen muss. Das heisst auch: Wir müssen den Hausarztberuf attraktiver machen. In dem wir vielleicht auf dem Land die entsprechenden Infrastrukturen zur Verfügung stellen. Die koordinative Leistung der Hausärztinnen und Hausärzte muss im Zentrum stehen, um die Kosten zu senken und die Qualität zu steigern. Dafür gibt es zahlreiche Studien. Unnötige, unkoordinierte Medizin hat Nachteile, gesundheitliche und finanzielle.


Zweites Massnahmenpaket zur Kostendämpfung

Sie haben sich kritisch über das zweite Massnahmenpaket des Bundesrates geäussert. Was stört Sie an diesem Entwurf?

Bundesrat Berset will im Massnahmenpaket 2 die koordinierte Versorgung stärken, indem er sie durchreguliert. Das ist ein gefährlicher und völlig unnötiger Schritt. Die koordinierte Versorgung hat sich grossartig entwickelt und wird laufend besser. Gesetzliche Regeln würden diese Innovation abwürgen. Die Situation ist geradezu grotesk: Die aktivistische Politik ist besessen von stetigen Eingriffen und Vorschriften. Alain Bersets Amtsführung führt zu einer Reformwut, die noch längst nicht ausgestanden ist – und unter der wir Ärztinnen und Ärzte und das ganze System leiden.

Woran denken Sie?

An das katastrophale Qualitätssicherungsgesetz. Oder die notdürftige Zulassungsregulierung: Diese ist kaum in Kraft und muss bereits revidiert werden.

Wie liegt die Gefahr in Bezug auf die koordinierte Versorgung?

Die Massnahmen gefährden die Weiterentwicklung der hausärztlich koordinierten Versorgung mit einer Flut von Vorschriften, die bereits im Gesetzestext vernichtend sind. Kommt dann erst noch die Verordnung aus dem BAG dazu, dann wird die Erfolgsgeschichte der alternativen Versicherungsmodelle einfach erstickt. Netzwerke müssten dann nach einem durchregulierten Raster organisiert und zusammengesetzt sein. Alles würde schwerfällig und bewilligungspflichtig. Die Kantone müssten den Netzwerken mit abermals weiteren Auflagen kantonale Leistungsaufträge geben und ihre Qualität überprüfen. Das ist ein Albtraum für die koordinierte Versorgung. Sie konnte sich nur in einem freien Umfeld bis jetzt so hervorragend entwickeln.

„Politik und Verwaltung reagieren auf unbefriedigende Zustände immer mit neuen Gesetzen und Verordnungen, die über das Ziel hinausschiessen. Alle gesundheitspolitischen Vorlagen der letzten Jahre legen davon ein trauriges Zeugnis ab.“
Politisiert der Bund an der Praxis vorbei?

Politik und Verwaltung reagieren auf unbefriedigende Zustände immer mit neuen Gesetzen und Verordnungen, die über das Ziel hinausschiessen. Alle gesundheitspolitischen Vorlagen der letzten Jahre legen davon ein trauriges Zeugnis ab. Die Verordnung zum neuen Heilmittelgesetz (VITH) erstickt mit ihren Auflagen das Aushandeln von Rabatten mit der Industrie. Das neue Qualitätsgesetz stockt wegen der realitätsfernen Auflagen in der Umsetzung und findet für die zur Verfügung stehenden Millionen kaum Projekte. Das Elektronische Patientendossier (EPD) bringt keinen Nutzen und muss den Spitälern und Leistungserbringern regelrecht reinprügelt werden. Es wird auf der ganzen Linie scheitern. Die Zulassungsregulierung gefährdet die Versorgungssicherheit und wird zu einer Flut von juristischen Prozessen führen. Vieles wurde überstürzt eingeführt und verursacht nur Kosten und Ärger.

Zum Beispiel?

Die obligatorische Rechnungskopie an die Patienten. Sie wurde dem System ohne Realitätscheck aufgezwungen. Kein Intermediär und kein Praxisinformatiksystem konnte das umsetzen. Viele ältere Patienten sind zudem verwirrt. Davon profitiert nur die Post: Sie kann Millionen von Briefen verschicken und die Leistungserbringer müssen es bezahlen.

Wie kann Gegensteuer gegeben werden?

Wir brauchen einerseits Ruhe in diesem Reformeifer und andererseits die Deblockierung wichtiger unbestrittener Reformwerke wie EFAS und TARDOC. Dafür reichen für die koordinierte Versorgung zwei minimal invasive Eingriffe: Seriös arbeitende Hausärztinnen in vertraglichen Netzwerken wollen nicht auf Listen aufgeführt werden, die sich dem Patienten gegenüber irreführenderweise als Hausarztmodell angepriesen werden. Sie müssen also die Möglichkeit haben, sich von den Listenmodellen streichen zu lassen (Art. 41 Abs. 4 KVG). Zudem bin ich dafür, dass das BAG mit der Prämienkontrolle bei den AVM aufhört. Versicherungen sollen ihre Prämien frei festlegen können (Art. 101 KVV).